www.humanecology.ch · Artikel · Bewusstsein

4.4 Subjektiv-kognitive Lebensweise

Auf der dritten Stufe der Bewusstseinsentwicklung gelangen wir zum Menschen, bei dem als neues emergentes Phänomen ein diskursives Bewusstsein auftritt. Bei den Säugetieren haben wir davon gesprochen, dass die organische Basis für die Entwicklung eines praktischen Bewusstseins mit Lernkapazität die Ausgestaltung des Grosshirns mit seiner flexiblen Sensomotorik gewesen sei. Was ist nun die entsprechende Basis für die darauffolgende Entstehung des diskursiven Bewusstseins? Sicher gehört das auffallende Grössenwachstum des Grosshirns dazu. Im Laufe von wenigen Millionen Jahren vergrösserte sich das Gehirnvolumen von unseren noch affenartigen Vorfahren zum Homo sapiens um einen Faktor 3.131 Es ist ferner anzunehmen, dass auch die ausgeprägte funktionale Asymmetrie der beiden Gehirnhälften des Menschen eine Rolle spielt. Dabei scheinen Fähigkeiten, die mit dem diskursiven Bewusstsein zusammenhängen, ihren Sitz vor wiegend in der linken Hemisphäre zu haben.132 Darüber hinaus aber ist für die Entwicklung des menschlichen Geistes letztlich vermutlich das intensive soziale Milieu, in dem Kinder aufwachsen, entscheidend. Im Gegensatz zum Nachwuchs anderer Primaten ist das neugeborene Menschenkind hilflos und braucht intensive Pflege. Es ist bei der Geburt weniger weit entwickelt; damit es den gleichen Entwicklungsstand wie andere Primatenkinder hätte, müsste die Schwangerschaft 21 und nicht 9 Monate dauern. Das aber wäre unmöglich, da dann wegen des vergleichsweise grösseren Hirnvolumens die Schädelgrösse die weibliche Beckenöffnung bei weitem übersteigen würde. Menschenkinder werden also gewissermassen um ein Jahr zu früh geboren, was Adolf Portmann dazu veranlasst, vom ersten Lebensjahr als einem "extrauterinen Frühjahr" zu sprechen.133 Der soziale Kontext kann sich somit in einem sehr frühen Stadium bemerkbar machen, und diese Tatsache hat ihrerseits eine Rückwirkung auf die Gehirnentwicklung: Da ein guter Teil von ihr nach der Geburt stattfindet, ist das menschliche Gehirn während seiner kritischen Entwicklungsphase sehr viel komplexeren und abwechslungsreicheren Reizen aus der Aussenwelt ausgesetzt als dasjenige unserer nächsten tierischen Verwandten.134
Das diskursive Bewusstsein baut, wie wir gesehen haben, auf der Manipulation von Symbolen auf, und daraus ergibt sich beim Versuch der Anwendung der Ergebnisse einer solchen Manipulation auf die äussere Wirklichkeit tendentiell eine instrumentelle Einstellung, die auf Einzelheiten der Umwelt gerichtet ist. Råberg interpretiert dies als vorläufigen Endpunkt der Entwicklung eines biologischen Urtriebes, des Nahrungstriebes, der sich in einem Motivationsschema äussert, das aus einer nahrungsorientierten Sinneswahrnehmung und einem elementaren inneren Körperbewusstsein besteht und dem betreffenden Organismus via Extraktion der Notwendigkeiten aus der umgebenden Welt das Überleben sichert. Beim Menschen tritt dieses Schema als artikuliertes und vielseitiges Werkzeug für qualitative Selbsterfahrung in Erscheinung. Die Freude am eigenen Körper und die Befriedigung von mehr und mehr vorüberlegten Wünschen werden zu einem neuen Ziel. Es kommt zu einer individuums-zentrierten Identität, zu einer Identifikation mit externen Ressourcen. Damit sind Gefahren verbunden: Es kann ein bedrohlicher positiver Rückkopplungsprozess in Gang kommen: Die Erfahrung, solche Ressourcen ausbeuten zu können, ergibt eine mächtige Motivation für noch grössere Anstrengungen in dieser Richtung. Es geht schliesslich nicht mehr um Notwendigkeiten zum Überleben, sondern die Ressourcennutzung wird zum Selbstzweck.135 Gleichzeitig sehen "wir die Welt als Ansammlung gesonderter Dinge, die alle ihr eigenes unabhängiges Sein haben." Mit unseren Begriffen schaffen wir "Unterscheidungen und ziehen damit Grenzen zwischen einem Ding und einem andern."136 Wir neigen dazu, vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr zu sehen.
Gleichzeitig mit der Entwicklung einer individuellen Identität mit einer Fixierung auf Einzelheiten der Umwelt - der "Vereinzelung", wie Jonas dies nennt -, entsteht aber gewissermassen ein Gegenprogramm in der Form eines kognitiven Raumbewusstseins, eines Vermögens, das eine regionale Ausdehnung des konkreten Ressourcenraums und darüber hinaus ein Spekulieren über die Welt im allgemeinen jenseits der Grenzen dieses Raumes erlaubt. Zugleich Voraussetzung wie auch Rückwirkung dieser Art von Orientierung ist eine organisierte Umgestaltung des Raumes, womit gewisse neue künstliche Ressourcen (wie z.B. Transportsysteme) geschaffen werden, mit deren Hilfe dann gewisse natürliche Ressourcen erst zugänglich werden. Auch dieser Vorgang ist ein Ausdruck von Fähigkeiten des diskursiven Bewusstseins wie abstraktes, planendes Denken und explizite Gedächnitsleistungen. Aber die dabei auftretenden individuellen Leistungen sind natürlich nur möglich auf der Basis des schon bei höher entwickelten Tieren beobachteten sozialen Systems von Wissensvermittlung, beim Menschen in extremem Sinne ausgeprägt in Form der Wissenschaft als kollektives Unternehmen und der daraus resultierenden technischen Möglichkeiten.
Mit dieser Skizzierung haben wir aber bereits den gegenwärtigen Stand der menschlichen Entwicklung angesprochen, also das bisherige Endresultat. Es kam nämlich nach der Menschwerdung, also dem Herauswachsen des Menschen aus der biologischen Evolution, nicht sprunghaft zum heute vorherrschenden diskursiven Bewusstsein, sondern es zeigten sich typische Stadien der kulturellen und damit auch der Bewusstseinsentwicklung. Hinsichtlich der Beschreibung dieser Entwicklung halte ich mich hier an die Unterscheidungen, die Gebser in seinem monumentalen Werk "Ursprung und Gegenwart" vornimmt.137 Er postuliert die folgenden Stufen: Die archaische, die magische, die mythische und die mentale, wobei die letztgenannte noch in eine ältere effiziente und eine jüngere defiziente Stufe unterteilbar ist. Die Charakterisierung, die Gebser dazu liefert, kann - so scheint mir - als eine gewisse Rekapitulierung der in der biologischen Evolution vorangegangenen Bewusstseinsentwicklung interpretiert werden, eine Rekapitulierung, die wohl mit der schrittweisen Entstehung von menschlichem Selbstbewusstsein zu tun hat. Wohlverstanden, diese kulturelle Entwicklung baut auf der oben beschriebenen biologischen Entwicklung auf, der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass bei ihm alle drei Bewusstseinsebenen vom Beginn der kulturellen Evolution mehr oder weniger vorhanden sind. Das "mehr oder weniger" bezieht sich dabei auf das diskursive Bewusstsein; dieses ensteht wohl im engeren Sinne erst nach der Entwicklung der menschlichen Sprache, aber mindestens als Anlage ist es vorher schon vorhanden. Wenn wir also von der Bewusstseinsentwicklung im Laufe der kulturellen Evolution reden, dann muss dies mit dem spezifisch menschlichen Phänomen des erwachenden Selbstbewusstseins zu tun haben. Im folgenden möchte ich kurz auf die Abfolge der Gebserschen Bewusstseinsstufen und deren Bedeutung im Kontext der vorliegenden Arbeit eintreten.
Tabelle 3: Zuordnung von (dominanten) Bewusstseinsebenen nach Giddens, Bewusstseinsstufen nach Gebser und Zeitepochen
Bewusstseinsebene
(nach Giddens)
Bewusstseinsstufe
(nach Gebser)
Zeitepoche
Diskursives Bewusstsein
Mentale, defiziente
Mentale, effiziente
Neuzeit
Antike und Mittelalter
Praktisches Bewusstsein
Mythische
Neolithikum bis Bronzezeit
Unbewusstes
Magische
Paläolithikum

Anmerkungen

131
Vgl. Christopher Wills 1993, 262.
132
Wenn Råberg in diesem Zusammenhang bemerkt, das nutritive Prinzip werde so zum Ausgangspunkt eines hierarchischen Schemas menschlichen Tuns, bei dem sich ältere Programme mit einer Modifikation ihrer Funktionen unterordnen müssten, interpretiere ich dies nicht mehr als Resultat der biologischen Evolution, sondern bereits als Ergebnis der kulturellen Entwicklung zur Moderne mit ihren bewusstseinsmässigen Abspaltungerscheinungen und einer Übermächtigkeit des Wirtschaftssystems. Vom Gesichtspunkt einer evolutionären Verträglichkeit aus handelt es sich hier um eine Inversion, die korrigiert werden müsste: Die Erfüllung individueller Bedürfnisse sollte sich in einem Rahmen abspielen, der durch eine sozial bestimmte Sinngebung abgesteckt ist, und diese Sinngebung ihrerseits müsste letztlich mittels einer ökologischen Orientierung abgesichert sein. Und erinnern wir uns daran: Die hier zum Ausdruck kommende Instrumentalisierung der Natur betrifft nicht nur ihre äussere, sondern auch ihre innere Form: "Auch zum eigenen Leib verhält sich der moderne Mensch wie zur äusseren Natur, nämlich objektivierend instrumentalisierend, ausbeuterisch und destruktiv" (Böhme 1992a, 78) (vgl. mit Abschnitt 2.1).
133
Hayward 1990, 262.
134
Siehe Gebser 1949.
135
Vgl. Gebser 1949, 73 ff. Gebser bevorzugt anstelle von "Stufe" den Ausdruck "Ebene".
136
Vgl. Gebser 1949, 79 ff.
137
Vgl. Gebser 1949, 100 ff.