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3.1 Die Welt und Ich

Die Ebene des Unbewussten kann uns einen Zugang zur Welt in einem umfassenden Sinnne vermitteln, so lautet also die Behauptung.51 Wir wollen hier nun versuchen, sie zu belegen. Wenn wir anerkennen, dass unser Leib die Natur ist, die wir selbst sind, wie Böhme dies ausdrückt, und dass unsere Seele, verstanden als Unbewusstes, das leibnächste psychische System darstellt, dann ist es zunächst plausibel, dass wir insofern eine unmittelbare Verbindung zur Natur haben, als wir selbst ein Teil von ihr sind.52 Wenn wir aber selbst Natur sind, können wir in einem gewissen Sinne sagen, wir enthielten ein Stück Welt in neuer Form, Welt, die sich durch einen Abgrenzungsvorgang als innere Welt von einer äusseren Welt abgetrennt hat, aber in ihren Bestandteilen auf den Ursprung des Lebens, wenn nicht des Kosmos zurückverweist. Hans Jonas drückt dies so aus: "... selber lebende, stoffliche Dinge, haben wir in unserer Selbsterfahrung gleichsam Gucklöcher in die Innerlichkeit der Substanz und dadurch eine Vorstellung (oder die Möglichkeit einer Vorstellung) nicht nur davon, wie das Wirkliche im Raume ausgebreitet ist und sich wechselseitig bestimmt, sondern auch davon, wie es ist, wirklich zu sein und zu wirken und Wirkung zu erleiden."53
In psychischer Hinsicht meldet sich die Natur, die wir selbst sind, in Form von gefühlhaften Erlebnissen zu Wort.54 Diese sind Ausdruck autonomer biologischer Funktionen, sie haben einen orientierenden Charakter im Hinblick auf ein biologisch sinnvolles Verhalten. Als Beispiel nennt von Ditfurth "süss" als angenehmes Geschmackserlebnis.55 Die biologischen Energien, die an der Entstehung unserer emotionalen Erfahrungen beteiligt sind, haben den Charakter von Trieben oder Instinkten. Mit der Entstehung des geistigen Pols unserer Innenorientierung sind wir Menschen aber längst nicht mehr nur biologische Wesen; diesen Trieben oder Instinkten kommt nicht mehr die absolut massgebliche Bedeutung zu wie einst.56 Tatsächlich betrachten wir uns ja als relativ instinktarme Lebewesen, aber unsere biologischen Grundlagen machen sich immer noch in Form psychischer Erscheinungen bemerkbar und stellen uns gewissermassen ein Fenster in die Vergangenheit zur Verfügung, zu einer Welt, aus der wir kommen, die aber nach allem, was wir wissen, immer noch die Welt ist, von der wir heute und auch inskünftig im Sinne der Bereitstellung der Lebensgrundlagen abhängen.
Carl Gustav Jung hat diese psychischen Erscheinungen in seinem tiefenpsychologischen Konzept des kollektiven (also überindividuellen) Unbewussten57 beschrieben. Er hat damit gewissermassen ein Bild der Seele entworfen. In ihr sind Archetypen als psychische Ordnungsprinzipien am Werk. Diese sind selbst unanschaulich, aber sie können sich in bildhafter Symbolik in unserem Bewusstsein bemerkbar machen - wir haben ja eingangs mit der Schlange und dem Vogel zwei derartige Symbole kennengelernt. Das kollektive Unbewusste ist prinzipiell eine autonome Instanz, die sich auf ihre Weise und zu ihrer Zeit meldet.58 Uns allen sind unsere Träume als Botschaften dieser Instanz bekannt, die wir als passive Empfänger aufnehmen. Allerdings zeigt sich dabei, dass das, was in unser Gewahrsein gelangt, immer das Resultat einer Interaktion zwischen dem Unbewussten und unserer äusseren Erfahrungswelt darstellt. Tatsächlich verwenden ja Träume eine Bildsprache, deren Elemente bekannte "Dinge" wie andere Menschen, Tiere, Pflanzen, Häuser, Strassen, Landschaften usw.,59 wenn auch zum Teil in seltsamen Kombinationen und Verzerrungen, darstellen.60 Trotzdem können darin Botschaften zum Ausdruck kommen, die den persönlichen Erfahrungshorizont bei weitem übersteigen, also eben einen kollektiven Bedeutungscharakter haben. In diesem Sinne betont z.B. Erich Fromm die Universalität und Objektivität der Traumsprache.61
Wir haben aber auch die Möglichkeit, aktiv einen Zugang zum Unbewussten zu suchen. Dies kann auf zweierlei Arten geschehen, zum einen durch eine alleinige Konzentration auf die Innenwelt, zum andern mit einem Zusammenwirken zwischen Innen- und Aussenwelt, typisch etwa in Form eines Naturerlebnisses. Die erste Form können wir - mindestens in seiner extremen Ausprägung - als mystisches Erlebnis bezeichnen; es kann mittels verschiedener Arten von meditativen Praktiken erreicht werden.62 Die zweite Form hat in ihrer positiven Ausprägung den Charakter eines ästhetischen Erlebnisses. Je nach Intensität des Erlebten können wir, wenn wir wollen, auch von religiöser Erfahrung reden. Betrachten wir als Beispiel ein von Edward O. Wilson berichtetes Erlebnis im Regenwald: "I walked into the forest, struck as always by the coolness of the shade beneath tropical vegetation, and continued until I came to a small glade that opened onto the sandy path. I narrowed the world down to the span of a few meters. Again I tried to compose the mental set - call it the naturalist's trance, the hunter's trance - by which biologists locate more elusive organisms. I imagined that this place and all its treasures were mine alone and might be so forever in memory - if the bulldozer came. In a twist my mind came free and I was aware of the hard workings of the natural world beyond the periphery of ordinary attention, where passions lose their meaning and history is in another dimension, without people, and great events pass without record or judgement. I was a transient of no consequence in this familiar yet deeply alien world that I had come to love."63
Es ist zu vermuten, dass wir es bei solchen Erfahrungen mit einer Art von Resonanz zwischen Innen- und Aussenwelt zu tun haben. "Resonanzen sind eine wahrnehmbare und (unterschwellig) auch erlebte Form von Übereinstimmungen zwischen Eigenheiten von Lebensräumen und persönlichen Zügen oder momentanen Stimmungen," sagen z.B. Patrik Hunziker, Andrea Rüede und Peter Frischknecht,64 wobei, so denke ich, Resonanzen in gewissen Fällen, wie z.B. bei Wilsons Erlebnis, in der Innenwelt des erlebenden Subjekts auch weit unter sein Persönliches greifen können. Entsprechend kann die erlebte Aussenwelt so etwas wie objektive Gefühlsqualitäten annehmen. "Genau dies," so Böhme, "ist ... für eine Naturästhetik, die man heute entwickeln könnte und sollte, von entscheidender Bedeutung; denn es kann dabei ernst genommen werden, dass die Umgebungen, in denen wir uns befinden, für uns nicht bloss als Stoffwechselpartner von Bedeutung sind, ... sondern dass sie als ästhetische Umgebungen unser Befinden stets bestimmen."65
Nicht vergessen sollten wir aber, dass es auch noch andere Arten des Zusammenwirkens von Innen- und Aussenwelt gibt, die nicht mit Resonanzen in einem positiven Sinne zu tun haben, sondern eher mit Kompensationsphänomenen in einem negativen Sinne. Nach Hans-Jürgen Seel und Ralph Sichler entsteht durch kollektive Verdrängungsprozesse ein gesellschaftlich produziertes Unbewusstes.66 Individuen nehmen, wenn sie in eine Gesellschaft sozialisiert werden, auch das gewissermassen Fehlende in sich auf, bzw. die von der Kultur vermittelte Einseitigkeit wirkt sich auch entsprechend auf die Bewusstseinsverfassung dieses Individuums aus. Die psychische Ungleichgewichtigkeit ruft dann kompensatorische Reaktionen des kollektiven Unbewussten im Jungschen Sinne hervor, es entsteht ein Begegnungsfeld zwischen diesem Unbewussten und der fraglichen Kultur.67 Seel und Sichler denken, die abendländische Zivilisation habe gerade etwa die eigene Natürlichkeit des Menschen ins Unbewusste verdrängt.68
Von Bedeutung ist dies: Ein Individuum, das über den Bereich des Unbewussten eine Welterfahrung macht, macht diese Erfahrung in passiv rezipierender Weise. In der Ich-Welt-Beziehung ist die Welt das Primäre, das Ich das Sekundäre. Die Erfahrung vermittelt Aspekte von Weltge- oder verbundenheit, was nicht erstaunlich ist, da es ja um ursprünglich biologische Notwendigkeiten geht. Entsprechend fühlt sich das erlebende Subjekt als von Welt umgeben, als in sie eingebettet, auch als Teil der Welt, eventuell wie bei Wilson als unbedeutender Teil sogar. Natürlich verharrt das fragliche Individuum nicht im Zustand dieser Erfahrung, die Freiheiten seines Denkens werden ihm im nachhinein die eine oder andere Interpretation des Geschehenen nahelegen. Trotzdem wird der Eindruck der erlebten Bindung nicht wegzuleugnen sein, die Erfahrung hat einen quasi-objektiven Charakter und ihre Interpretation kann nicht beliebiger Art sein.

Anmerkungen

51
In der Psychologie wird dabei von "Primärprozessen" geredet (siehe dazu z.B. Bateson 1972, 138 ff.).
52
Vgl. von Ditfurth 1982, 45.
53
Denken wir an geschlechtliche Liebe und Essen: Beide haben bei uns längst nicht mehr den Charakter der unbedingten Dringlichkeit auf einen Anreiz hin, sondern sie erlauben zeitlichen Aufschub. Dabei hat der Zeitpunkt, bei dem die Befriedigung dieser Bedürfnisse richtig oder erlaubt scheint, wesentlich mit ihrer Einbettung in soziale Gepflogenheiten zu tun. Nicht nur das, sondern im Falle der sexuellen Begegnung tritt sogar die biologische Funktion meist völlig in den Hintergrund.
54
Ganz allgemein ist, wenn wir vom Unbewussten reden, immer daran zu denken, dass wir nur in dem Masse von ihm Kenntnis haben, wie es Phänomene produziert, die ins Bewusstsein eintreten. John R. Searle spricht diesen Umstand an, wenn er sagt: "The notion of an unconscious mental state implies accessibility to consciousness. We have no notion of the unconscious except as that which is potentially conscious" (Searle 1994, 152.). Dazu kommt die zusätzliche Schwierigkeit, dass eine Art Barriere zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten zu existieren scheint. Man kann sich fragen, ob dies eine anthropologische Konstante oder aber spezifisch für unsere gegenwärtige Zivilisation ist.
55
Zur Jungschen Tiefenpsychologie siehe z.B. die zusammenfassende, übersichtliche Darstellung von Jolande Jacobi 1971.
56
Schon hier zeigt sich, dass der nicht-menschlichen Umwelt eine grosse psychische Bedeutung zukommt, denn nicht-menschliche Elemente kommen weit häufiger vor als menschliche (siehe Ulrich Gebhard 1994, 26).
57
In einer Studie über die Entwicklung des Gehirns und seiner Fähigkeiten im Laufe der biologischen Evolution beschreibt von Ditfurth (1982, 188) das Traumphänomen so: "Was in unsern Träumen tanzt, ist das Zwischenhirn. Wenn unser Bewusstsein im Schlaf erlischt, ist es von der Dominanz des Grosshirns vorübergehend befreit. ... Dann zeigt es uns die Welt, deren Abbild es ist. An die es vor unermesslichen Zeiträumen von der Evolution angepasst wurde. Dann zeigt es sich, dass diese Welt nicht unsere heutige Welt ist, sondern deren archaische Vorstufe. Die Dinge und Personen, die sichtbar in unseren Träumen auftreten, die freilich entstammen den optischen Erinnerungen unseres Wachbewusstseins, gleichsam der Requisiten-Kammer des Grosshirns." Die Mitteilung, die ein Traum enthält, ist im übrigen nicht so sehr in den einzelnen in ihm vorkommenden Objekten enthalten, sondern in den Beziehungen zwischen ihnen, und damit hat sie einen metaphorischen Charakter (vgl. Bateson 1972, 139-140).
58
Fromm 1981a, 312.
59
Solche Praktiken sind vor allem aus östlichen Religionen bekannt. Welche Art von "erleuchtender Erkenntnis" können wir, die wir in einer westlichen Kultur aufgewachsen sind, denn erwarten, wenn wir uns einer meditativen Innenorientierung aussetzen? Nun, als durchschnittlicher Mensch ohne spezielles und rigoroses Training werde ich vermutlich kaum zu sensationellen Erlebnissen kommen, kann aber, das bin ich überzeugt, meinen Bewusstseinszustand allmählich verändern, auch wenn mir das nicht offensichtlich bewusst wird (vgl. auch mit der Diskussion der buddhistischen Bewusstseinslehre in Abschnitt 6.1).
60
Edward O. Wilson 1984, 6-7. Interessant ist bei dieser Schilderung, dass Wilson als Wissenschaftler sich, der üblichen Arbeitsweise unseres neuzeitlichen diskursiven Bewusstseins entsprechend, in einem engen Raum auf Details konzentrieren will, dann aber plötzlich von der ganzen Ambiance überwältig wird.
61
Patrik Hunziker, Andrea Rüede und Peter Frischknecht 1994, 340.
62
Böhme 1992b, 63. Ein ästhetisches Erlebnis hat wohl immer bis zu einem gewissen Grad einen holistischen Charakter. Dies kommt z.B. in einem Hinweis von Thomas Schmidt zum Ausdruck, in dem er mit Bezug auf Rudolf Steiner und Goethe die Bedeutung des Sonnenlichtes beschreibt: "Licht ist die Erscheinung des räumlichen Zugewendetseins der Dinge der Welt untereinander" (Schmidt 1985, 13-14). Die Rolle der Sonnenstrahlung bei der Erfahrung von Welt ist in diesem Fall eine indirekte; bei der Betrachtung des evolutionären Hintergrundes im nächsten Kapitel werden wir sehen, dass ihr auch eine direkte Bedeutung zukommt.
63
Vgl. Seel und Sichler 1993, 23.
64
Genau genommen meinen Seel und Sichler, dass das aus dem gesellschaftlich Verdrängten entstandene Unbewusste das kollektive Unbewusste eigentlich ausmache und so an die Stelle des Jungschen Konzeptes zu stellen wäre (siehe Seel und Sichler 1993, 23). Ich kann mich mit dieser Vorstellung nicht anfreunden; irgendwoher muss ja die psychische Kraft kommen, die dann auf das Verdrängte irgendwie reagiert. Möglicherweise kann hier auch ein Zusammenhang mit dem "Gruppen-Unbewussten" gesehen werden, wie es etwa bei Marie-Louise von Franz als ein Phänomen postuliert wird, das sich auf eine bestimmte Kultur bezieht und als Schicht zwischen dem persönlichen und dem kollektiven Unbewussten gesehen werden kann (siehe von Franz 1978, 81).
65
Vgl. Seel und Sichler 1993, 23. In diesem Zusammenhang sei auch auf eine Studie von Thea Bauriedl (1986) hingewiesen, die eine Analogie zwischen psychischer Krankheit beim Individuum und in der Gesellschaft aufzuzeigen versucht. Sie meint, die in unserer Zivilisation auftretenden Phänomene von Macht und Ohnmacht, von Gewalt, Krieg und Naturzerstörung seien nur als Folge eines kollektiven Verdrängungsprozesses möglich. Es ginge nun darum, in einer Art heilender Aufklärung das Verdrängte ins Bewusstsein zu holen, das sei vielleicht die letzte Chance, die wir noch hätten. (vgl. Bauriedl 1986, 9-10).
66
Dazu bietet die sprachliche Kommunikation von sich aus gute Voraussetzungen, denn: "In general we speak with feeling not with thought, and it is only as our intentions issue in performance that we are able to tell whether we are successfully executing them or not" (Shotter 1984, 47).
67
Shotter 1984, ix.
68
Siehe z.B. die Zusammenfassung bei Gerhard Huber 1975.