Wie die vertikale Achse in Figur 1 andeutet, scheint die Innenwelt des Menschen zu zeigen, dass er zwei verschiedenen Welten angehört, also ein zwiefältiges, vielleicht sogar zwiespältiges Wesen ist. Tatsächlich stellt das Herauswachsen des Menschen aus der biologischen Evolution einen Fall von Emergenz15 dar: Es entsteht ein Wesen, in dem sich das neue Phänomen des reflexions- und selbstreflexionsfähigen Bewusstseins entfaltet. Gleichzeitig aber bleibt dieses Wesen mit seinem empfindungsfähigen Leib auch dem Bereich der Biologie verhaftet. Damit macht sich fortan eine Dialektik zwischen Natur (Leib und Seele) und Geist bemerkbar, die in Form des sogenannten "Leib-Seele-Problems"16 die Philosophie und später die Wissenschaft seit Beginn des rationalen Denkens in der Antike immer wieder beschäftigt hat.17
Der Mensch als Wesen, das sich im Spannungsfeld von Natur und Geist selbst fragwürdig ist, diese Situation ist aber nicht erst in der philosophisch-wissenschaftlichen Zeit zum Thema geworden, sondern hat durchaus eine schon längere Geschichte. So fand sie ihren Ausdruck schon früh in mythischen Vorstellungen und archetypischen Symbolen, die in gleicher oder ähnlicher Form in verschiedenen Kulturen bekannt waren und zum Teil bis heute ihre Kraft beibehalten haben. Nehmen wir als Beispiel die von Rudolf Högger beschriebenen Gestalten der Wasserschlange und des Sonnenvogels, die die über nepalischen Tempeleingängen angebrachten Bogenfelder schmücken.18 Sie können als Verkörperung von Natur und Geist interpretiert werden, die sich als zwei Grundkräfte im Menschen begegnen. Die Schlange "lebt unten. ... Die Schlange hat etwas mit der Grundlage des Lebens und der Kultur zu tun. Sie gehört zur Erde ... Die Schlange ist mächtig, sie ist Lebenskraft. Sie bewirkt Wachstum und Entwicklung, aber sie erschüttert auch die Erde, überschwemmt das Land und zerstört die Kultur."19 "Der Vogel erscheint oben. ... Ihn kennzeichnet ... die klärende Distanz, das Licht und die Transparenz der Erscheinung. Er überfliegt die tieferen Regionen, nimmt Abstand und erkennt, was aus dem Gewühl in der Tiefe werden will. ... Sein Blick dient der Orientierung und klärt den Standort. Gleichzeitig stellt er den Bezug zur höheren Gesamtordnung her. ... Garuda20 hat [aber] nicht nur Distanz zur Erde, sondern setzt sich mit deren Kräften direkt und handfest auseinander. Die Schlangen werden gepackt und gezähmt."21
Von besonderer Bedeutung für unsere heutige Situation ist aber dies: Natur und Geist werden in diesen Darstellungen weder monistisch noch dualistisch aufgefasst, weder als Einheit noch als Zweiheit, sondern als beides. Sie wirken miteinander und doch auch gegeneinander. "Wasserschlange und Sonnenvogel sind Aspekte ein und derselben menschlichen Erfahrung und deshalb untrennbar; sie stellen innerhalb dieser Erfahrung aber zwei entgegengesetzte Pole dar und erscheinen deshalb als unvereinbar. Der seelische Vorgang oder das Erlebnis, das auf der Torana22 abgebildet ist, lässt sich ohne diese doppelte Perspektive gar nicht ausdrücken."23 Die Gleichzeitigkeit des Einen und Verschiedenen entspricht dem Denken in Polaritäten, wie es Jean Gebser dem mythischen Bewusstseinszustand zuschreibt: "In der Polarität hat die Entsprechung Gültigkeit; jede Entsprechung ist ein ergänzender, ein ganzmachender Vollzug ..."24 Natur und Geist in solcher polarer Form zu erleben, birgt das Potential in sich, das Ganzmachende in Handlungen auf die Aussenwelt zu übertragen. Wann immer sich dieses Potential durchgesetzt hat, sind weitgehend harmonische Siedlungs- und Landschaftsgestaltungen die Folge gewesen. Gerade auch Nepal ist ein Beispiel dafür; für Högger stellen die traditionellen nepalischen Bauten "überzeugende Kunstwerke" dar.25
Es scheint, dass wir in der westlichen Zivilisation auf dem Weg zur Moderne irgendwann die Fähigkeit verloren haben, Natur und Geist in dieser polaren Form zu erleben und deren Ganzmachungs-Potential sich auf unsere Handlungen auswirken zu lassen. Stattdessen haben wir seit der Aufklärung dem Geistigen in immer stärkerem Masse das Primat zugewiesen, in der Meinung, wir könnten damit unwürdige Lebensweisen des Menschen durch würdigere ersetzen. Aber: "Wir kennen nun die Frostschäden, die eine solche Linearisierung des Menschen auf das Progressive des Wissens zur Folge hat."26 Dabei entstehen die Schäden nicht nur als direkte Folge der uneingeschränkten Übersetzung des Wissens in technische Artefakte und deren rücksichtslose Anwendung, sondern auch in indirekter Konsequenz dieser Einseitigkeit, weil sie kompensatorische Effekte des ausgegrenzten Irrationalen hervorruft. Der Vogel und die Schlange treffen sich nicht, sie wirken aneinander vorbei.
Angesichts des Ausmasses der heutigen Umweltzerstörung möchte man fast geneigt sein, der These von Ludwig Klages zuzustimmen, wonach der Geist als feindliche fremde Macht in die irdische Welt eingebrochen sei und hier nun "als Widersacher der Seele" das Leben bedrohe.27 Doch selbst wenn dem so wäre, wir können diesen Geist nicht abschaffen, wir bleiben "Bürger zweier Welten ... Mittleres zwischen Tier und Engel,"28 und wir müssen sehen, wie wir damit zurecht kommen. Jedenfalls wird klar: Einseitigkeit ist gefährlich, sie endet in Sackgassen oder letztlich in der Selbstvernichtung, Zweiseitigkeit kann für eine evolutionär-kreative Kontinuität sorgen, die zwar, wie die erwähnten Beispiele zeigen, Harmonie zu produzieren vermag, aber nicht nur, sondern immer auch mit dem Aushalten von Widersprüchen verbunden ist.
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Högger 1993, 33. In diesem Zusammenhang sei auch nochmals an die schon genannte traditionelle bäuerliche Kulturlandschaft Mitteleuropas Menschgemachte Artefakte in einer Landschaft können also einen durchaus quasi-natürlichen Charakter haben, aber die Voraussetzung dazu ist ein ausgeglichener Bewusstseinszustand. In psychologischer Sprache kommt dies, wie die weitere Besprechung zeigen wird, einem Ausgleich zwischen Fühlen und Denken gleich. Damit ist auch gesagt, dass das Zusammenwirken der beiden Pole und nicht ihre Gegensätzlichkeit wesentlich ist, ja, dass die letztere vielleicht nur eine scheinbare ist. So meint etwa Jeremy W. Hayward (1990, 95): "Emotionalität und Denken sind keine grundverschiedenen Dinge, sondern eher die beiden Enden eines Spektrums."