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1. Einleitung: Die Krise ist männlich ...

Die Frage, was Vernunft angesichts der ökologischen Krise bedeuten kann, möchte ich in diesem Beitrag so aufgreifen, daß ich sie mit der Geschlechterproblematik in unserer Gesellschaft in Verbindung bringe.1 Ein historischer Rückblick zeigt, daß sich die letzten vier- oder fünftausend Jahre der abendländischen Kulturgeschichte durch die Kontinuität eines Patriarchates, also einer Herrschaft der Männer über die Frauen auszeichnen. Diese Entwicklung hat sowohl einen sozial- wie auch einen bewußtseinsökologischen Aspekt, d.h. es gibt ein Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Strukturen einerseits und Bewußtseinszuständen und daraus entspringenden Handlungsweisen andererseits. Die patriarchale Ordnung der gesellschaftlichen Strukturen äußert sich wie folgt: Der evolutionär ältere Bereich des Verwandtschaftlichen und Familiären, heute des Privaten, ist den Frauen zugewiesen, während die evolutionär jüngeren Bereiche des Politischen und des Ökonomischen den Männern (deren „Erfindung" sie ja auch sind) vorbehalten sind. Ebenso sind Frauen von der Mitwirkung in Wissenschaft und Philosophie weitgehend ausgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich hier eine Trendwende ab. Als bewußtseinsmäßiges Korrelat zur Geschlechterdifferenz auf der strukturellen Ebene sehe ich eine eher weiter gefaßte „Vernunft" auf der weiblichen und ein eher enger gefaßter „Verstand" auf der männlichen Seite. Diese Unterscheidung hat einen Bezug zur bekannten Kontrastierung einer „instrumentellen" mit einer „kommunikativen" Rationalität, wie wir sehen werden.
Diesen geschlechtsbasierten Differenzierungen ist ein gewisser Grad von Natürlichkeit nicht abzusprechen. So hat, wie Günter Dux2 ausführt, die in den genannten gesellschaftlichen Strukturen zum Ausdruck kommende „Innenpositionalisierung der Frau" und die „Außenpositionalisierung des Mannes" ihre Basis in der Physiologie der Geschlechter. Damit ist aber eben nur eine Basis, eine Anlage angesprochen. In der gesellschaftlichen Entwicklung hat sich daraus eine übersteigerte Polarisierung ergeben, die keinesfalls einer evolutionären Notwendigkeit entsprechen kann.3 Dasselbe gilt dann parallel für die Ebene von Bewußtsein und Handlung, indem sich ursprünglich wohl geringfügige Verhaltensunterschiede unter sozialen Zwängen immer stärker differenziert haben. Angesichts des Umstandes, daß sich der Mensch offenbar zu einem instinktarmen Lebewesen entwickelt hat, dürften heute biologische Unterschiede sowieso kaum mehr mit angeborenen Verhaltensweisen, sondern viel eher mit Dispositionen für Weisen der Welterfahrung zu tun haben.4
Ich verstehe nun die Krise der Gegenwart als ein Resultat dieser geschlechtermäßig polarisierten Kulturgeschichte. Daß im speziellen die Problematik der Umweltzerstörung damit zusammenhängt, scheint plausibel, wenn wir bedenken, daß durch die gesamte abendländische Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft, also aus männlicher Sicht, die Gleichstellung von Frau und Natur den Normalfall darstellt.5 „Durch die alte Gleichsetzung der Natur mit einer Nahrung spendenden Mutter berührt sich die Geschichte der Frauen mit der Geschichte der Umwelt und des ökologischen Wandels".6 Für das männliche Bewußtsein hatte die Gleichung Frau = Natur die Funktion, seine Höherstellung zu begründen. Positiv gesehen ist sie dann nicht unsinnig, wenn ein weiter Begriff der Natur gemeint ist, einer, der sich auf die evolutionäre Kontinuität von Biologie zu menschlicher Kultur bezieht. So gesehen kann man umgekehrt mit Marilyn French dann auch sagen: „Für den Mann ist es natürlich, unnatürlich zu sein".7
Die genannte Unterscheidung von „Verstand" und „Vernunft" möchte von der heute gängigen Gleichsetzung der beiden Begriffe mit dem der „Rationalität" Abstand nehmen. Als Synonyme beziehen sich alle drei auf ein eingeengtes Verständnis der psychischen Fähigkeiten des Menschen, auf eines, das ihre Bedeutung im Prinzip auf das reduziert, was auch „Intelligenz" genannt wird. So etwa sagt Nicholas Rescher: „Rationalität besteht in dem angemessenen Gebrauch der Vernunft, um Probleme auf die bestmögliche Weise zu lösen. Sich rational zu verhalten, heißt, von der eigenen Intelligenz Gebrauch zu machen, um herauszubekommen, was in den jeweiligen Umständen am besten zu tun ist."8
Mit der Distanzierung von diesem eingeengten Verständnis möchte ich zunächst an der Kantischen Gegenüberstellung von Verstand und Vernunft anschließen: Der „Verstand [ist] ... das diskursive9 Erkenntnisvermögen, das ... auf die sinnliche Anschauung ... angewiesen ist. ... [Er] ordnet mittels der Begriffe die Anschauung (bzw. das Mannigfaltige der Erscheinungen) zu einer Einheit ...", und: „... die Vernunft ... bezieht sich ... auf das Ganze, auf den universellen Zusammenhang aller Wirklichkeit und allen Geschehens ...; sie ist die Fähigkeit bzw. das Vermögen des Erfassens von übergreifenden Ordnungs- und Sinnzusammenhängen ...".10 Die Betonung ist hier auf der Vernunft als einer Quelle der Orientierung und nicht als einem Hilfsmittel zur Problemlösung. Es ist möglich, daß ein Problem verschwindet oder anders aussieht, wenn eine solche Orientierung vorhanden ist.
In einem zweiten Schritt aber geht es mir darum, eine zusätzliche Erweiterung des Vernunftbegriffs ins Auge zu fassen, nämlich eine, die das, was üblicherweise als ihr Gegenstück verstanden wird, das „Andere der Vernunft"11 gerade einschließt. Gerhard Huber kommt uns hier entgegen, wenn er sagt, das Wort „Vernunft" sei auf das zu beziehen, was sprachlich in ihm steckt, nämlich das „Vernehmen".12 Das Vernehmbare aber kann nicht nur aus dem im obersten Bewußtsein angesiedelten Denken stammen, sondern es kommt ebenso sehr oder sogar eher aus dem Wesenhaften, das uns „in der lebendig erfahrenen Natur, im künstlerischen Gebilde, in der mitmenschlichen Beziehung"13 begegnet. Einem solchen Vernunftverständnis ist „so etwas wie eine religiöse Bedeutung eigen, gesetzt, ‚religiös' heiße die Bindung an ein Überlegenes ..., wovon der darum Wissende abhängig ist und dem er zu entsprechen sucht".14
Figur 1: Modellhafte Darstellung der menschlischen Bewusstseinsebenen mit ihren psychischen Funktionen und zugeordneten Rationalitätstypen
Figur 1: Modellhafte Darstellung der menschlischen Bewusstseinsebenen mit ihren psychischen Funktionen und zugeordneten Rationalitätstypen
Als Grundlage für die Strukturierung der bewußtseinsökologischen Aspekte der folgenden Ausführungen benutze ich die in Figur 1 gezeigte modellhafte Skizze der Einteilung der menschlichen Psyche in die drei Ebenen des diskursiven Bewußtseins, des praktischen Bewußtseins und des Unbewußten.15 In den drei Ebenen sind die Funktionen des Erkennens und Denkens, des Wahrnehmens und Tuns bzw. des Fühlens und Bewertens angesiedelt. Mit Pestalozzi können wir von „Kopf, Hand und Herz" reden. Zugang zur eigenen inneren Welt (inkl. zu seinem Leib) hat der Mensch über eine Verknüpfung der verschiedenen Ebenen, zur äußeren Welt über das mit „Merk- und Wirkorganen"16 verbundene praktische Bewußtsein, das eine zweifache Ausrichtung auf eine biophysische und eine soziale Umwelt hat. Den drei Bewußtseinsebenen können wir die klassische Dreiteilung in eine „theoretische(-kognitive)", eine „praktische(-moralische)" und eine „ästhetische(-evaluative" bzw. „-expressive)" Vernunft (oder Rationalität) zuordnen, nämlich: die theoretische Vernunft dem diskursiven Bewußtsein, die praktische Vernunft dem praktischen Bewußtsein und die ästhetische Vernunft dem Unbewußten.17 Nach dem üblichen Verständnis von Rationalität wäre diese Zuordnung zunächst so zu verstehen, daß jeder Typ mit Phänomenen zu tun hat, die in der jeweils genannten Bewußtseinsebene ihren Ursprung haben.
Es ist offensichtlich, daß sich eine zusammenhängende, umfassende Vernunft aus einer Kombination der drei genannten Rationalitäten ergeben muß. Dabei wäre aber zu fragen, ob nicht in Abweichung vom gerade genannten üblichen Verständnis jede Teilvernunft direkt auf die ihr entsprechende Bewußtseinsebene mit den assoziierten psychischen Funktionen bezogen werden sollte, und zwar, um verlustreiche Projektionen von Inhalten aus den „unteren" Bewußtseinsebenen in die „oberste" Ebene zu vermeiden. Eine solche Projektion liegt vor, wenn in eingeengter Sichtweise, wie sie z.B. von Rescher vertreten wird, jede Teilvernunft in identischer Weise als eine Fähigkeit gesehen wird, Rechenschaft abzulegen bzw. eine Begründung dessen zu liefern, was man tut.18 Im folgenden werde ich auch unter der modifizierten Perspektive den Begriff „Rationalität" für die Bezeichnung der drei Vernunftteile beibehalten. „Rational" ist dann nicht nur eine diskursiv operierende Denkfähigkeit, sondern sind auch die mit dem praktischen Bewußtsein und dem Unbewußten verbundenen psychischen Funktionen.19
Die Bedeutung der verschiedenen Bewußtseinsebenen erhellt sich weiter, wenn wir sie in Anlehnung an Bernd Biervert und Josef Wieland sowie Martin Buber mit je einem Beziehungstyp assoziieren: Das Unbewußte mit dem Typ Mensch-Kosmos bzw. Ich-Welt (in religiöser Interpretation Ich-Heiliges oder -Göttliches), das praktische Bewußtsein mit dem Typ Mensch-Mensch oder Mensch-Mitwelt (Mitwelt = andere Lebewesen, Landschaften usw.) bzw. Ich-Du, und das diskursive Bewußtsein mit dem Typ Mensch-Ding bzw. Ich-Es.20 Dabei wäre zu bedenken, daß wir bei der Betrachtung früherer Phasen der menschlichen Entwicklung die Rede von einem „Ich" von der modernen Vorstellung eines ausgewachsenen Subjektes weg zu einem mehr metaphorischen Gebrauch des Begriffs zurückbuchstabieren sollten.
Unbewußtes, praktisches Bewußtsein und diskursives Bewußtsein bilden, in dieser Sequenz, eine evolutionäre Folge. Das erstere (jedenfalls das sog. kollektive Unbewußte, das uns hier besonders interessiert) besteht nach Jung aus der „Summe der Instinkte und ihrer Korrelate, der Archetypen" (der Urbilder),21 umfaßt also stammesgeschichtlich erworbene und genetisch verankerte Verhaltens- und Erfahrensweisen. Wenn es stimmt, daß Materie und Psyche die Außen- und Innenansicht ein und derselben bewußtseinstranszendenten Wirklichkeit sind,22 dann ist anzunehmen, daß das Unbewußte in der Erweiterung seines kollektiven Aspektes letztlich Anschluß am „Unus Mundus", der Einheitswirklichkeit, hat. Insofern es so im Universellen wurzelt, wird die obige Rede von der Mensch-Kosmos-Beziehung auch verständlich. Im Zugang zu uns selbst finden wir Zugang zur Welt.23 Das praktische Bewußtsein bildet sich durch ontogenetisches Lernen sowohl in der biophysischen wie der sozialen Umwelt, was sich auf die Tradierung von Informationen, aber auch auf eigenbestimmte Exploration beziehen kann. Dies geschieht immer in der Begegnung mit einer ganz bestimmten Umwelt und kann sich somit immer nur auf Besonderes beziehen. Das diskursive Bewußtsein schließlich kann sich mittels abstrahierendem, erinnerndem und antizipierendem Denken auf eine imaginierte Welt beziehen. Es besitzt damit ein Verallgemeinerungsvermögen und kann so versuchen, das Partikuläre wieder in Richtung Universalität zu verlassen. Mit dem expliziten Formalismus, den es dabei verwendet, sind aber nur vordergründige Teilwahrheiten darstellbar. Michael Polanyi hat sich ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt: Aus explizitem Wissen kann nur dann ganzheitliches Wissen werden, wenn es in einen impliziten Hintergrund eingebettet ist.24 Wenn wir uns vorstellen, daß der letztere im praktischen Bewußtsein und im Unbewußten angesiedelt ist, haben wir damit auch von dieser Seite einen Hinweis auf die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens der verschiedenen Bewußtseinsebenen.
Evolutionäre Folgen zeichnen sich dadurch aus, daß ein jeweils neueres Phänomen sich aus einem älteren ausdifferenziert und sich von ihm in gewissem Umfang emanzipiert, daß es aber für seinen Weiterbestand gleichzeitig auf eine andauernde Einbettung in seinen Ursprung angewiesen ist. Im Sinne dieser Einbettung stellt die genannte Folge also auch eine Hierarchie dar. Wir dürfen annehmen, daß eine evolutionär-ökologische Verträglichkeit nur dann gewährleistet ist, wenn eine solche Hierarchie respektiert bleibt und ihre Komponenten in Wechselwirkung miteinander bleiben. Eine Betrachtung der abendländischen Bewußtseinsgeschichte zeigt, daß offenbar genau dies nicht der Fall ist. Erstens löst sich die Vernunft in ihre Bestandteile auf und verliert so ihre integrierende Kraft. Zwar sind nach Jürgen Habermas diese Bestandteile in der Lebenswelt „noch auf intime Weise verschränkt", aber die neuzeitlichen Expertenkulturen lassen die „Vernunft in ihre Momente zerfallen".25 Der Hinweis auf die Expertenkulturen zeigt, daß parallel zu diesem Zerfall auch Spaltungserscheinungen im Bereich gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse auftreten. Zweitens tendiert das menschliche Bewußtsein zur kopflastigen Eindimensionalität, indem sich das diskursive Bewußtsein in Form des Verstandes zur alleinigen Herrschaft aufschwingt und einer „teilhaften Rationalität des Technischen, Szientifischen und Ökonomischen"26 zum Durchbruch verhilft. Und drittens bedeutet diese Dominanz des „Kopfes", insofern er in einem einseitigen Verhältnis zu den älteren Bewußtseinsschichten steht, eine invertierte Hierarchie.27 Spätestens die wachsende Dramatik der Krise der Gegenwart läßt uns bewußt werden, daß uns das, was wir oben als eigentliche Vernunft bezeichnet haben, abhanden gekommen ist.
In Abwesenheit anderer Orientierungspunkte aber kann sich die theoretische Rationalität an nichts anderem als an ihren eigenen Regeln ausrichten.28 „Die Herrschaft der Regel" ist der Titel eines Buches von Bettina Heintz, in dem sie zu zeigen versucht, daß die algorithmische Aufbereitung mentaler Prozesse im Computer, die heute in der Künstlichen Intelligenz mündet, der gleichen Art von Bewußtseinszustand entstammt wie die schon früher entstandene tayloristisch-fordistische Zergliederung der Arbeitswelt.29 Die theoretische Rationalität mit ihrer Fähigkeit, in abstrakter Denkweise Zeichen, im Extremfall mathematische Symbole, zu manipulieren, ermöglicht von Haus aus eine Tendenz Richtung Instrumentalisierung. Problematisch wird dieser Umstand, wenn die Zeichen auf etwas in der Außenwelt verweisen und dieser Zusammenhang dazu benützt wird, die abstrakte Manipulation ohne irgendeine Kontrolle durch weitergreifendes Orientierungswissen in konkrete Handlungen umzusetzen. Eine instrumentelle Rationalität im handgreiflichen Sinne bekommen wir also dann, wenn ein Zusammenwirken von „Kopf" und „Hand" derart vorliegt, daß eine abstrahierend-manipulative Einstellung der konkreten Praxis aufgezwungen wird. Mit dem so akkumulierten Verfügungswissen können wir immer mehr, wissen aber immer weniger gut, was wir sollen. Das „Zugleich von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und moralischer Impotenz"30 stellt einen pathologischen Zustand dar, der Zerstörung ermöglicht. Dies umso mehr, als das vorhin genannte Regelhafte vor allem auch die „symbolischen Interaktionsmedien"31 der modernen Gesellschaft, in erster Linie Macht und Geld, alimentiert. Die damit ermöglichte anonyme Verknüpfung von Einzelhandlungen leistet aber einer „organisierten Unverantwortlichkeit"32 Vorschub und führt zu systemischen Prozessen, die eine Eigengesetzlichkeit entwickeln.33
Mein Ausgangspunkt war die Aussage, es bestehe eine Verbindung zwischen der ökologischen Krise und der Geschlechterproblematik in unserer Gesellschaft. Weiter war von der Gegenüberstellung eines männlichen und eines weiblichen Bewußtseinstyps die Rede, wobei dem ersteren der Begriff des „Verstandes", dem letzteren der der „Vernunft" entspreche. Mit den obigen Ausführungen ist nun klar geworden, daß, nach meinem Verständnis, der männliche Typ einen Zustand charakterisiert, in dem eine starke Desintegration der verschiedenen Bewußtseinsebenen und ein Primat der diskursiven Ebene vorliegen, der weibliche Typ dagegen einen, in dem noch ein stärker integriertes und ausgeglicheneres Wechselspiel zwischen diesen Ebenen vorhanden ist. In der folgenden Darstellung mache ich den Versuch, zunächst in knapper Form den zur heutigen Krisensituation führenden evolutionären Hintergrund etwas auszuleuchten, um dann in ausführlicherer Weise Ansätze zu möglichen Auswegen abzutasten. Dazu verwende ich eine humanökologisch inspirierte Sichtweise.34 Ich werde auf beide früher genannten Aspekte hinweisen, den bewußtseins- wie den sozialökologischen. Letztlich gilt unser Interesse aber mehr den ersteren, ganz einfach deshalb, weil Strukturen sich nicht von selbst ändern, Menschen aber immer eine Bewußtseinsveränderung anstreben können.

Anmerkungen

1
Ich baue dabei auf Gedankengut auf, von dem ich gewisse Aspekte schon in einem früheren kürzeren Papier dargestellt habe (Steiner 1993b). Dank schulde ich meinen MitarbeiterInnen für fruchtbare Diskussionen über das Thema des Textes im allgemeinen und über frühere Versionen desselben im besonderen: Huib Ernste, Jakob Weiss, Corine Mauch, Dagmar Reichert, Alec Schaerer und Joachim Schütz, vor allem aber Wolfgang Zierhofer.
2
S. Günter Dux 1992, 164ff.
3
Interessanterweise kann eine solche Polarisierung schon bei den kulturell noch „unverdorbenen" Verwandten von uns, den Tierprimaten, beobachtet werden. Nach Hans Kummer zeigt das Verhaltensrepertoire von weiblichen und männlichen Individuen zwar Verschiedenheiten, aber auch eine starke Überlappung. Die üblichen sozialen Konstellationen bewirken dann aber eine Übersteigerung der anlagemäßig an sich geringen Unterschiede. Hauptaspekt des männlichen Verhaltenssyndroms ist der „Aggress". Darunter ist nicht Aggressivität (was ein engerer Begriff darstellt) zu verstehen, sondern „das energisch tätliche Herantreten an die Umwelt". Im Unterschied dazu ist der Hauptfaktor des weiblichen Syndroms „der pflegerische soziale Zusammenhalt" (Kummer 1980, 146).
4
Dazu meint etwa Jutta Voß: „... mein Leib und meine Leiberfahrung sind die einer Frau. Es gibt keinen Mann, der je erfahren könnte, wie Frauen ihre Menstruation erleben ..." (Voß 1990, 20). Wenn die empirisch beobachtbaren Unterschiede zwischen Mann und Frau höchstens partiell eine geschlechtsspezifische Basis haben, dann gibt es Gründe, die nahelegen, „weiblich" und „männlich" in Anführungszeichen zu setzen, andere, dies nicht zu tun. Der Einfachheit halber habe ich mich für das zweite entschieden.
5
Vgl. Geneviève Lloyd 1985.
6
Carolyn Merchant 1987, 12.
7
Marilyn French 1985, 115. French zitiert mit diesem Satz Robin Fox 1975, 54: "It is ... natural to man to be unnatural ...", der eigentlich mit "man" den Menschen allgemein und nicht nur den Mann meint.
8
Nicholas Rescher 1993, 1-2.
9
Dabei meint „diskursiv" „dasjenige Denken ... , das Schritt für Schritt vorgeht, das von einer Vorstellung zu einer andern Vorstellung logisch fortschreitet und das Ganze ... aus seinen Teilen aufbaut" (Alexander Ulfig 1993, 91).
10
Ulfig 1993, 459 bzw. 456.
11
Die Rede vom „Andern der Vernunft" weist auf den Leitgedanken der abendländischen Philosophie hin, wonach in Gefühlen keine Erkenntnissicherheit zu gewinnen ist. Heute aber wird die Bedeutung der Gefühle wiederentdeckt und damit verändert sich die genannte Position. S. dazu Heinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann 1993.
12
Vgl. Gerhard Huber 1990, 110.
13
Huber 1981, 139.
14
Huber 1981, 140.
15
Vgl. Anthony Giddens 1988, 57.
16
Dies sind Begriffe, die von Jakob von Uexküll in seiner Funktionskreis-Lehre der Beziehungen zwischen Lebewesen und Umwelt verwendet werden (s. z.B. Uexküll 1980, 188ff.) Zur humanökologischen Bedeutung dieser Lehre s. Parto Teherani-Krönner 1992, 34ff.
17
Wenn unter „Ästhetik" „die Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung" (Ulfig 1993, 43) verstanden wird, ist klar, daß eine ästhetische Rationalität nur durch ein Zusammenwirken von einem nach außen gerichteten praktischen Bewußtsein und dem Unbewußten entstehen kann. „Die Ästhetik als Wahrnehmungstheorie ... hat eben damit zu tun, daß man sich durch Umgebungen und Gegenstände affektiv betroffen fühlt ..." (Gernot Böhme 1989, 11). Andererseits kann aber Gefühlhaftes auch einer Eigenleistung des Unbewußten entspringen und ohne Kontakt mit der Außenwelt zustande kommen.
18
S. Rescher 1993, 5. Mit seiner Auffassung ergeben sich Anknüpfungspunkte an die Theorie der kommunikativen Rationalität von Jürgen Habermas, mit der ich mich in Abschnitt 3.2 befassen werde.
19
Zum Vergleich sei auf die Auffassung von Carl Gustav Jung verwiesen, wonach auch das Fühlen als eine rationale psychische Funktion betrachten werden sollte (s. Jolande Jacobi 1971, 15). Ich möchte natürlich nicht behaupten, daß es völlig klar ist, was es bedeuten könnte oder sollte, wenn wir sagen, eine expressiv-evaluative Rationalität müsse mit dem Fühlen direkt statt mit dem argumentativen Sprechen darüber zu tun haben. „Direkt" ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, weil ja das Fühlen auf alle Fälle eine Ausdrucksform braucht, wenn es mitgeteilt werden soll. Aber wir können uns vorstellen, daß dies dann eine Ausdrucksform nicht-sprachlicher Art sein könnte.
20
Vgl. Bernd Biervert und Josef Wieland 1990, 12 und Huber 1975 (bezüglich Buber). Daß eine Ich-Du-Beziehung auch für den Zugang zur biophysischen Umwelt gilt, ist ausdrücklich eine Vorstellung von Buber. Sie deutet auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausweitung des Bereichs unserer moralischen Verpflichtungen (s. dazu z.B. Huber 1984). Im Falle der Mensch-Ding- bzw. Ich-Es-Beziehung kann auch eine Ding-Ding-Beziehung, die gewissermaßen die Eigenbewegung der Dinge thematisiert, eingeschlossen sein.
21
Jung 1976, 21.
22
Vgl. Marie-Louise von Franz 1970, 244.
23
Wir erleben das, was Gabriel Marcel „Mysterium" nennt (s. zu diesem Begriff z.B. die Exegese von Sonia Kruks 1990, 34ff.).
24
Vgl. Michael Polanyi 1958 und 1985, Polanyi und Harry Prosch 1975 und Steiner 1991.
25
Jürgen Habermas 1984, 522.
26
Huber 1990, 110.
27
Diese Situation der Inversion wird bei Polanyi und Prosch und Alisdair MacIntyre zwar nicht bis ins Ästhetische, aber bis zum Moralischen zurückverfolgt und als „moralische Inversion" (Polanyi und Prosch 1975, 18) bzw. „moralische Unordnung" (MacIntyre 1985, 2) thematisiert.
28
Was eine derartige Reduktion bedeutet, zeigt sich auch schön am Rationalitätsverständnis von Rescher. Er sagt nämlich: „... obwohl ein Geschöpf, das unfähig ist, Emotionen zu verspüren, nicht als ein menschliches Wesen gelten kann, gibt es keinen Grund, weshalb es nicht als ein rationales Wesen gelten sollte" (Rescher 1993, 2). Das heißt aber doch umgekehrt, daß ein Konzept von nicht-menschlicher (um nicht zu sagen unmenschlicher) Rationalität auf den Menschen angewendet wird.
29
Bettina Heintz 1993a.
30
Huber 1978, 114.
31
Vgl. Talcott Parsons 1980.
32
Untertitel des Buches „Gegengifte" von Ulrich Beck 1988.
33
Der Historiker Christian Meier hat hierfür den Begriff des „autonomen Prozesses" geprägt. Dieser „entsteht durch ein Umschlagen von Handlungssummen in eine Eigendynamik" (Meier 1978, 42). Das Ganze läuft dann wie von selbst ab: „Die Beteiligten, die es in Gang halten, sind ihm unterworfen. Ihre eigenen Aktionen, Reaktionen und Anschlußreaktionen greifen so machtvoll und intensiv - sich multiplizierend und potenzierend - ineinander, daß das daraus resultierende Geschehen sich verselbständigt, eigene Kraft entfaltet und in den Beteiligten so viel Dynamik hervorruft, daß sie, was sie auch wollen, nur immer zur allgemeinen Bewegung beitragen können" (Meier 1978, 18).
34
Eine neuartige Humanökologie ist als Reaktion auf die genannte Krise seit den 80er-Jahren in Entstehung begriffen. Ich verstehe ihre Aufgabe als eine dreifache: 1. interdisziplinäre Verknüpfungen zwischen fachspezifischen Wissensbeständen herzustellen, 2. in transwissenschaftlicher Weise wissenschaftliches Bemühen in einen Kontext philosophischer Reflexion einerseits und lebensweltlicher Belange andererseits zu stellen, und 3. auf Vergangenheit und mögliche Zukunft des jeweils Untersuchten eine evolutionäre Perspektive anzuwenden (s. dazu Steiner 1993a).