Die sog. Umweltkrise hat also ihren Ursprung im gesellschaftlichen Tun. Es ist somit folgerichtig, zu fordern, daß eine Allgemeine Humanökologie ihren Ausgangspunkt in den Humanwissenschaften (Sozial- und Geisteswissenschaften) habe. Mit andern Worten, die Brücke, die es zwischen den Human- und Naturwissenschaften zu schlagen gilt, wird sinnvollerweise vom Ufer der ersteren aus vorgetrieben. Dies ist natürlich mit Schwierigkeiten verbunden, als ja die Wissenschaft insgesamt ein sehr pluralistisches Unternehmen ist und, schlimmer noch, speziell die Humanwissenschaften unter einer extremen Segmentierung und einer gewissen Unordnung leiden. Ob die relevanten wissenschaftlichen Disziplinen je in der Lage sein werden, gemeinsam zu einer überdachenden Theorie zu gelangen, darf deshalb bezweifelt werden.2 Figur 1 zeigt einige der Disziplinen, die für den humanökologischen Kontext von Person, Gesellschaft und (biophysischer) Umwelt von Bedeutung sind, in einer einem traditionellen Verständnis entsprechenden Positionierung, nämlich in einer der Ecken des Dreiecks. So gesehen wird es dann klar, daß für jegliche Art von transdisziplinärer Anstrengung nicht die Ecken, sondern die Seiten des Dreiecks von Belang sind.
Ungeachtet der Schwierigkeiten hat es wiederholte Versuche gegeben, das Problem der interdisziplinären Integration mit dem großen Wurf einer allgemeinen Theorie zu lösen. Das am besten bekannte Beispiel dürfte Edward O. Wilsons “Soziobiologie” (Wilson 1977) sein. Wie der Name andeutet, handelt es sich hier um ein Projekt, welches allgemein soziales Verhalten auf biologischer, d.h. genetischer Grundlage erklären und in diese Erklärung auch viele Aspekte menschlichen Tuns einschließen möchte.3 Damit tritt aber die reduktionistische Natur dieses Unternehmens deutlich hervor: Disziplinär gesprochen erhebt es - sicher nicht ausschließlich, aber der Tendenz nach - den Anspruch, Soziologie auf Psychologie und Psychologie auf Biologie reduzieren zu können.4 Für Wilson ist es also der Glaube an die Möglichkeit einer umfassenden synthetischen Theorie, die ihn veranlaßt, die Biologie als Ausgangspunkt zu nehmen. Daneben gibt es aber auch Wissenschaftler, die den unübersichtlichen Zustand der Humanwissenschaften als Grund dafür angeben, daß sie humanökologische Probleme von einer biologischen Perspektive aus angehen möchten. Z.B. meint Frank B. Golley, eine solche Perspektive sei ganzheitlich, während Humanökologie aus Sicht der Humanwissenschaften ein Thema ohne eine klare Heimat sei, weil die “anthropozentrischen Disziplinen” sich in ein “komplexes Mosaik” aufsplitterten (1991: 52-53). Meinerseits bin ich der Meinung, daß eine Allgemeine Humanökologie sich nicht vor Schwierigkeiten drücken darf, und ich sehe sogar einen Vorteil in der genannten “heimatlosen Situation”: Durch nicht allzu viele Leitplanken eingeengt, können wir uns die Freiheit herausnehmen, eine Art von innovativem “konstruktivem Eklektizismus” zu pflegen.5 So schließe ich mich der Auffassung von Ashley Montagu an, der sagt: “Contrary to Wilson, I would place all the sciences relating to humans within an anthropological framework ... and make sociobiology an intrinsic part of that framework” (1980: 5-6).
Wenn wir nicht hoffen können, mittels theoretischer Vereinheitlichungen in großem Stil zu interdisziplinären Verknüpfungen zu kommen, dann müssen wir zu heuristischen Verfahren Zuflucht nehmen. Ein relativ einfacher, in der Vergangenheit schon mehrfach erprobter Ansatz besteht darin, daß ein konkretes Problem als Brennpunkt der Integration dient: Die dafür relevanten Disziplinen orientieren sich für die Dauer eines gemeinsamen Projektes an mit dem fraglichen Problem verknüpften Fragestellungen. Eine der Disziplinen spielt eine führende Rolle, indem sie die Aufgabe der Koordination übernimmt. Ein ziemlich erfolgreiches Beispiel für ein derart angelegtes Forschungsprojekt ist das schweizerische MAB-Programm (1979-85).6 In diesem Falle übernahm die Geographie die Rolle der führenden Disziplin. Es dürfte allerdings klar sein, daß ein derartiger problem-orientierter Ansatz nur temporär funktioniert, nämlich so lange wie eben das Projekt dauert; das Problem der Zersplitterung der Wissenschaften ist damit nicht grundsätzlich gelöst. Auch hängt der Grad des Erfolges sehr stark von der Motivation der koordinierenden Personen ab, denn eine solche Motivation ist eine Voraussetzung für die Überwindung der Sprachbarrieren zwischen den teilnehmenden Disziplinen. Es ist deshalb typisch, daß im Falle des schweizerischen MAB-Projektes eine schlußendliche Integration nur über die Person des Koordinators, Paul Messerli, zustande kam, indem dieser eine Synthese der ganzen Arbeit in Buchform präsentierte (Messerli 1989). Dabei ist nicht nur ein emotionales Engagement wichtig, sondern auch ein Interesse an der Erweiterung des persönlichen Wissens in breiter und generalistischer Manier. Mit Stephen Boyden können wir die Fähigkeit, beide Aspekte zu kombinieren, “integrative scholarship” nennen (1993: 44).7
Obschon es also sehr unwahrscheinlich ist, daß wir im innerwissenschaftlichen Bereich die “große Theorie” der Humanökologie je finden werden, ist es doch sinnvoll, ein bescheideneres Ziel zu verfolgen, nämlich nach existierenden disziplinären Theorien Ausschau zu halten, die einen partiell integrativen Charakter haben. Daß eine Theorie einen solchen Charakter hat, kann zweierlei bedeuten: Entweder weist die fragliche Theorie selbst schon etablierte interdisziplinäre Verbindungen auf oder aber sie eignet sich zur Herstellung einer solchen Verbindung. Es ist ermutigend zu sehen, das einige der in Figur 1 gezeigten Disziplinen sich in der Tat in den letzten Jahrzehnten aus ihrer traditionellen Eckposition heraus in das Gebiet benachbarter Disziplinen vorgewagt haben. Zum Beispiel hat die Geographie seit etwa den 60er Jahren mit der Entwicklung einer Wahrnehmungs- und einer Sozialgeographie ihr Interessensgebiet in Richtung von Psychologie und Soziologie ausgedehnt oder verlagert.8Umgekehrt haben die zwei letztgenannten Disziplinen ein Interesse an räumlichen Aspekten und Umweltfragen und auch gegenseitig an sich selbst entwickelt. Mit solchen Konvergenzen entstehen allmählich teilweise integrierte Forschungsfelder.
Gemäß der evolutionären Perspektive, die wir in Abschnitt 4 noch separat besprechen werden, besteht der integrative Charakter einer Theorie gerade nicht darin, daß sie - wie die Soziobiologie dies versucht - eine “höhere” auf das Niveau einer “tieferen” Disziplin reduziert, sondern darin, daß sie sich am Prinzip von zirkulär wirkenden Kausalitäten, die Phänomen auf verschiedenen Ebenen miteinander verbinden, orientiert. Halten wir nach derartigen Theorien Ausschau, werden wir auch tatsächlich fündig. Die Theorie der Strukturation der Gesellschaft von Anthony Giddens ist wahrscheinlich das prominenteste Beispiel (Giddens 1988).9 Dabei sind die beiden Ebenen, die zirkulär miteinander verbunden sind, die der handelnden Personen und die der gesellschaftlichen Strukturen als einer Menge von Regeln.10 Mit andern Worten: Die Theorie sieht eine Person als Individuum, das innerhalb von gegebenen gesellschaftlichen Strukturen handelt und diese dabei reproduziert oder allenfalls auch transformiert. Dabei haben diese Strukturen einerseits einen ermöglichenden, andererseits einen einschränkenden Aspekt, d.h. die momentan gültigen Regeln bewirken, daß einerseits sinnvolle Interaktionen überhaupt erst möglich werden und andererseits aber auch diese Interaktionen nicht eine beliebige Form annehmen können. Giddens bezieht sich auf diese Situation mit seinem “Theorem der Dualität der Struktur”: “Konstitution von Handelnden und Strukturen betrifft nicht zwei unabhängig voneinander gegebene Mengen von Phänomenen -- einen Dualismus -, sondern beide Momente stellen eine Dualität dar. Gemäß dem Begriff der Dualität von Struktur sind die Strukturmomente sozialer Systeme sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren” (Gidens 1988: 77). Rekursivität bedeutet, daß Interaktionen zwischen Individuen, da sie ja geregelten Mustern folgen, immer wieder sinnvoll aneinander anschließen können.
Mit Bezug auf die involvierten Disziplinen könnten wir auch sagen, die Theorie von Giddens stelle - bis zu einem gewissen Grade wenigstens - eine Verbindung zwischen Psychologie und Soziologie her. Es ist eine Theorie, die “relational” oder “transaktional” genannt und als repräsentativ für das Denken in einem neuen Weltbild gesehen werden kann. Tatsächlich ist z.B. in der angelsächsischen Psychologie davon die Rede, daß ein Wandel zu einem “transaktionalen Weltbild” stattfinde, das die folgende Charakteristik aufweise: “... the transactional worldview does not deal with the relationship between elements, in the sense that one independent element may cause changes in, affect, or influence another element. Instead, a transactional approach assumes that the aspects of a system, that is, person and context, coexist and jointly define one another and contribute to the meaning and nature of a holistic event” (Irwin Altman und Barbara Rogoff 1987: 24). (Vgl. hierzu auch Peter Weichhart 1993). Für die Praxis stellt sich damit natürlich die Frage, wo man beginnen soll. Es kann akzeptabel sein, das von Figur 1 dargestellte humanökologische Problem auf die Ecke der Person zu projizieren, so lange jedenfalls eine solche Projektion nicht in einem reduktionistischen Sinne gemeint ist, sondern lediglich die Funktion eines methodologischen (nicht ontologischen!) Individualismus übernimmt.11 Natürlich stimmt es, daß es letztlich immer Personen sind, die anders denken und handeln und damit Strukturen auch verändern können; von selbst verändern sich diese nicht. Es fragt sich aber andererseits, welche Art von Bewußtseinszustand eine Voraussetzung dafür ist, daß Menschen Strukturen willentlich ändern wollen und ob die gegenwärtig wirksamen Strukturen einem alternativen Denken förderlich sind oder nicht.12 Es wird also nicht verneint, daß ein Teil eines individuellen Selbst ein Produkt von gesellschaftlichen Vorgängen auf der einen und von Beziehungen zur biophysischen Umwelt auf der andern Seite ist. Es gibt somit eine "doppelte Dualität", eine auf der gesellschaftlichen und eine auf der Umwelt-Seite.13 Aber ein personales Selbst bleibt, wie Peter Weichhart betont, der Brenn- oder Drehpunkt, auf dem diese Dualität ruht (1993: 89).
Kehren wir noch einmal zu der grundlegenden Frage zurück, die uns in diesem Abschnitt beschäftigt hat: Wenn wir der Diagnose zuneigen, die vorherrschende Fragmentierung, der sowohl individuelles Leben wie auch die Gesellschaft insgesamt unterworfen ist, sei an der Wurzel unserer Umweltprobleme, und wenn wir eine Lösung des Problems in einem entgegenwirkenden Integrationsprozeß sehen, wie weit werden wir fähig sein, einen solchen Prozeß wirklich in der Form einer wissenschaftlichen Theorie zu beschreiben? Die Antwort muß vermutlich lauten: Wir werden damit nicht sehr weit kommen. Der Grund liegt darin, daß die Wissenschaft uns großenteils mit nur einer Art des Wissens versorgt, mit Fachwissen nämlich, das, wie eben der Name sagt, in voneinander getrennten Fächern abgelegt wird. Die Begrenzung der Wissenschaft wird in drastischer Weise offensichtlich, wenn wir z.B. das Wesen von Menschen in integrativer Weise wissenschaftlich zu erfassen versuchen. Wir werden dabei ziemlich rasch realisieren, daß wir unweigerlich in Fragen einer philosophischen oder gar religiösen Natur verstrickt werden. Typischerweise existiert denn auch keine wissenschaftliche Anthropologie umfassender Art; dagegen gibt es eine philosophische Anthropologie, die diesen Charakter hat.14 Wenn aber die Wissenschaft vom Menschen allein schon nicht ganzheitlicher Art sein kann, muß dies wohl umso mehr noch für eine Wissenschaft von Mensch und (außermenschlicher) Natur gelten. “Es ist offensichtlich, daß es Wissenschaften, die ein so umfassendes Wissen ... produzieren, gar nicht geben kann ...” (Hard 1994: 162).15