www.humanecology.ch · Artikel · Konzept

1. Einleitung

Dieser Beitrag ist, was die Abschnitte 2 bis 5 betrifft, eine überarbeitete deutsche Version eines Aufsatzes, der zuvor in englischer Form in einem Tagungsband der Society for Human Ecology erschienen ist (Steiner 1995b). Was ich neu hinzufüge, ist Abschnitt 6, der sich noch mit gewissen Aspekten des Verhältnisses von Humanökologie und Geographie beschäftigt und dabei auch Beziehungen zu Arbeiten von Gerhard Hard herstellt. Im übrigen hat, auch ohne diesen Zusatz, das hier dargestellte Thema insofern mit dem gerade Genannten zu tun, als eine frühere Version des Konzeptes einer Allgemeinen Humanökologie (Steiner 1993a) anläßlich eines von Günther Beck im Frühjahr 1992 in Göttingen organisierten Treffens von humanökologisch interessierten Geographen, bei dem eben auch Gerhard Hard dabei war, diskutiert wurde.
Beim hier vorgelegten Entwurf eines konzeptionellen Rahmens für eine Allgemeine Humanökologie, geht es, dies sei gleich festgestellt, nicht um das Abstecken des Feldes einer neuen wissenschaftlichen Disziplin und auch nicht um ein Plädoyer für die Bearbeitung humanökologischer Fragestellungen innerhalb der Geographie. Es geht vielmehr um das Postulat einer umgreifenden Perspektive, einer Perspektive, die sich nicht für die Trennfunktion, sondern für die Überschreitbarkeit etablierter Grenzen zwischen menschlichen Wissensbereichen interessiert. Anlaß für ein solches Postulat ist die Existenz einer zunehmend bedrohlichen ökologischen Krise, die, so wie ich es sehe, in wesentlichen Teilen die Folge der ungeheuren Fragmentierung ist, die alle Bereiche der westlichen Gesellschaft erfaßt hat. Nicht nur die Wissenschaften sind, wie so oft bedauert, total zersplittert, sondern, entscheidender, das menschliche Leben selbst zerfällt in Kompartimente, die keinen Bezug mehr zueinander haben.1 Wie sollen unter solchen Umständen lebende Menschen, und dazu gehören auch die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Zusammenhänge in dieser Welt sehen können? Das Projekt einer Allgemeinen Humanökologie sucht entsprechend nach Wegen zu einer gegenläufigen Integration. Es ist sinnvoll, dabei den Bereich der Wissenschaft als Ausgangspunkt zu wählen. Die Wissenschaft wird ja vorderhand immer noch als das Problemlösungsinstrument unserer Gesellschaft betrachtet, wenn auch nicht mehr in ganz ungetrübter Weise, denn langsam wird uns bewußt, daß sie selbst mitschuldig an der heutigen Krise ist.2 Wir tun deshalb gut daran, wenn wir ihre Kompetenz nicht wieder überschätzen, sondern fortan ihr Wirken im Ausgleich mit außerwissenschaftlichen Bereichen menschlichen Wissens sehen. Dies wird nicht ohne strukturelle und institutionelle gesellschaftliche Transformationen, vor allem aber auch nicht ohne grundlegende Änderungen im Bewußtseinszustand der beteiligten Individuen möglich sein. Ich betone das letztere, weil letztlich die Gesellschaft nur über das veränderte Bewußtsein ihrer Mitglieder in wünschenswerter Richtung gestaltbar werden kann.
So gesehen können wir das hier skizzierte Projekt einer Allgemeinen Humanökologie als den Versuch einer integrativen Horizonterweiterung sehen. Der Anlaß ist, wie gesagt, die ökologische Krise, und deshalb könnten wir auch sagen, es gehe um die Frage von “Vernunft angesichts der Umweltzerstörung”.3 Im folgenden stelle ich anhand von ausgewählten Themen und je einer metaphorischen Figur vier Aspekte einer solchen Erweiterung dar und gebe auch gelegentliche Hinweise darauf, daß es eine Anzahl von Querverbindungen zwischen diesen Aspekten gibt.4 Es handelt sich um:
1.
Den transdisziplinären Aspekt: Er bezieht sich auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Verbindungen innerhalb der Wissenschaften und auf die Überzeugung, daß ein angemessenes Maß an Integration nur zustande kommen kann, wenn die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bereit sind, sich durch Überschreiten der Grenzen ihrer eigenen Disziplin ein Verständnis grundlegender Prinzipien von Nachbardisziplinen anzueignen;
2.
Den transwissenschaftlichen Aspekt5: Hier geht es darum, die Begrenzung der Problemlösungsfähigkeit der Wissenschaft insgesamt wahrzunehmen und daraus abzuleiten, daß unsere wissentliche Einstellung auch auf Nährgründe außerhalb der Wissenschaft angewiesen ist;
3.
Den evolutionären Aspekt: Er soll uns, wenn auch zum Teil in spekulativer Art, mit der historischen Vergangenheit und ihrer Transformation in die Gegenwart derart bekannt machen, daß wir eine Einsicht in die Gründe für die heutige Krise erlangen. Ebenso soll er uns Informationen über einige grundlegende Muster der Evolution vermitteln;
4.
Den transpersonalen Aspekt: Er bezieht sich auf die Vorstellung, das menschliche Bewußtsein solle sich in der Richtung von interner Integration und externer Bezogenheit entwickeln. Mit einem solchen Wandel sind nicht nur, aber vor allem auch, wissenschaftlich tätige Menschen angesprochen.

Anmerkungen

1
Alisdair MacIntyre sieht in dieser Zerteilung eine Quelle “gesellschaftlicher Hindernisse”: “The social obstacles derive from the way in which modernity partitions each human life into a variety of segments, each with its own norms and modes of behavior. So work is divided from leisure, private life from public, the corporate from the personal. So both childhood and old age have been wrenched away from the rest of human life and made over into distinct realms. And all these separations have been achieved so that it is the distinctiveness of each and not the units of the life of the individual who passes through those parts in terms of which we are taught to think and to feel” (1992: 204). Die Vermutung, daß “gesellschaftliche Hindernisse” mit “ökologischen Hindernissen” verknüpft sind, liegt nahe.
2
Dazu Gernot Böhme: “Daß Naturwissenschaft und Technologie für die Umweltprobleme mitverantwortlich sind, ist deutlich: Die Naturwissenschaft fördert ein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur, sie ist Kontrollwissen, ihr Begriff von Objektivität und Erklärung verlangt nach einer Partialisierung, Isolierung und schließlich Destruktion bestehender Systeme. Ihre Technik zielt auf vollständige Manipulation, ein technischer Schritt erzwingt den andern, mit einer Selbsttätigkeit der Natur wird nicht gerechnet” (1993: 18).
3
Anspielung auf den Titel eines Buches, in dem verschiedene Facetten der Frage, was Vernunft in dieser Situation noch bedeuten kann, diskutiert werden (siehe Wolfgang Zierhofer und Dieter Steiner 1994).
4
Vgl. dazu auch die kurze Darstellung, die ich im Zusammenhang mit einem Konzept von "praxisbegleitender Umweltforschung”, das in der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Umweltforschung und Öko¬logie (SAGUF) entwickelt wird, verfaßt habe (Steiner 1995a).
5
Zur Vermeidung einer gemischt lateinisch-deutschen Wortkonstruktion müsste man wohl sprachlich korrekter vom “transszientifischen” Aspekt reden; das aber tönt ungewohnt.