www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

7.1 Allgemeines

In der Beschäftigung mit der Frage, wie wir die ökologische Krise überwinden können, gibt es den Gegensatz zwischen realistischem und fundamentalistischem Denken - wir kennen ihn vor allem aus den Diskussionen, wie sie sich immer wieder bei den grünen Parteien abspielen. In der ersteren Sichtweise wird dafür plädiert, in kleinen Veränderungsschritten von der gegenwärtigen Wirklichkeit auszugehen und bei der Wahl der Schritte auch immer zu überlegen, was realistischerweise durchführbar erscheint und was nicht. In der letzteren Perspektive werden gegenüber dem Ist-Zustand radikale Änderungen verlangt, wobei deren Formulierung sich nach Überlegungen der Notwendigkeit und nicht der Implementierbarkeit richtet. Solche Ansätze werden deshalb unweigerlich utopische Elemente enthalten oder aber eigentliche Utopien darstellen. Das Wort "Utopie" bedeutet "Nirgendland" und ist seit dem 1516 erschienenen Roman "Utopia" des englischen Staatsmannes Thomas Morus (1478-1535) im Gebrauch. Günter Hartfiel beschreibt in seinem "Lexikon der Soziologie" die Gesellschaftsutopie wie folgt:
Bezeichnung für literarische und sozialreformerische Entwürfe von (im Vergleich zu kritisierten zeitgenössischen Zuständen) idealen Gesellschaftsordnungen. Sozialutopien sind insofern "abstrakt", wie sie ohne direkte Beziehung zu den vorhandenen gesesellschaftlichen Tendenzen und Möglichkeiten entwickelt werden. In der Regel skizzieren sie darum ihr soziales Modell als einen geschlossenen, von einer andersartigen Aussenwelt nicht berührten Strukturzustand, in dem es die an der Gegenwart kritisierten sozialen Beziehungsmerkmale nicht mehr gibt.246
Im Laufe der Geschichte hat es viele utopische Gesellschaftsentwürfe gegeben. Der bekannteste dürfte wohl die Vorstellung einer künftigen staats- und klassenlosen Gesellschaft von Karl Marx (1818-1883) sein, einem "Reich der Freiheit" in dem gilt: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."247 Gerade aus diesem Beispiel ist uns aber auch bewusst, dass der Versuch, einen utopischen Entwurf in die Tat umzusetzen, in keineswegs freiheitsfördernden Veränderungen resultieren kann. Dazu der Zürcher Philosoph Hans-Jürg Braun:
Wer die menschliche Gemeinschaft derart in den Einzelheiten durchplant, endet unweigerlich im Totalitären. Und dort, wo der Totalitarismus beherrschend wird, ist künftig utopisches Entwerfen unerlaubt: das Heil hat ja schon seinen Einzug gehalten!248
Sind wir aber bescheidener und sehen den Wert einer Utopie darin, dass sie eine Wegweiser-Rolle spielen kann, können wir die Überbrückung zu realistischen Ansätzen leisten und bleiben gleichzeitig offen für alle Möglichkeiten:
Wo jedoch dem Mensch Flexibilität, Wandelbarkeit ohne die Auflage, dass alle gleichermassen glücklich sein müssen, attestiert wird, gewinnt das Utopische ... regulativen Charakter im Gegensatz zum konstitutiven. ... der Mensch ... kann fehlen, zu schwach argumentieren, zu wenig ausdauernd handeln - sein Leitstern bleibt, ohne ihm mit möglicher Strafe für sein Versagen zu drohen.249
Im Katalog von Forderungen für Veränderungen im individuellen und gesellschaftlichen Bereich, die wir in 6.3 formuliert haben, steckt sicher auch ein utopisches Moment. Ich betrachte aber die dort genannten Schritte als im Prinzip aus dem gegenwärtigen Zustand heraus verwirklichbar, wenn wir nur wollen. Was dabei auffallen mag, ist der gewissermassen archaische Charakter, der den genannten Zielvorstellungen, dem territorialen Bezug, der Selbstversorgung, der überschaubaren Gemeinschaft, der spirituellen Orientierung, zukommt. Ist denn etwas, das mit der Vergangenheit zu tun hat, überhaupt noch utopisch? Hier ist die Auffassung des Biologen Humberto Maturana aufschlussreich, wonach eine wirkliche Utopie tatsächlich eine ist, die etwas Verlorenes wiederzugewinnen versucht.250 Insofern hat auch Franz Ritzmann durchaus recht, wenn er meint, das vielgerühmte Vorwärtsdenken der Utopisten sei eine Legende, es sei in Wirklichkeit ein reaktionäres Denken, denn sie orientierten sich nicht an der Zukunft, sondern an der Vergangenheit, notwendigerweise, denn "eine völlig neue, noch nie gewesene Gesellschaftsordnung kann man nicht beschreiben."251 Aber heisst das in der Konsequenz, dass ich einen Rückfall in vergangene Zeiten fordere, wenn ich von der Ausrichtung auf im Prinzip archaische Prinzipien rede? Nein, es geht ja nicht um eine Rückkehr - die tatsächlich gar nicht möglich ist - sondern um eine Wiederanknüpfung an Vergangenem, dessen Bedeutung als Fundament unseres Lebens auf diesem Planeten wir uns wieder in Erinnerung rufen müssen.

Anmerkungen

246
Hartfiel 1976, 609.
247
Vgl. dazu Arnold Künzli 1987. Marx selbst hätte sich allerdings dagegen verwahrt, als "Utopist" bezeichnet zu werden, denn er sah ja seinen Entwurf als Resultat einer wissenschaftlichen Analyse der im geschichtlichen Ablauf tätigen Gesetzlichkeit.
248
Hans-Jürg Braun 1987, 4.
249
Braun 1987, 5.
250
Humberto Maturana im Vortrag "The integrated scientist and the courage of utopia", gehalten am 2.9. 1989 anlässlich der 4. Cortona-Woche (veranstaltet von Pier Luigi Luisi, ETH Zürich).
251
Franz Ritzmann 1987, 52.