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Politisches

Politisches

1. Begriffliches
1.1 Zum Begriff des Politischen
1.2 Zum Begriff der Macht
2. Von der archaischen zur politischen Gesellschaft
2.1 Stufen der Transformation von egalitären zu herrschaftlichen Gesellschaften
2.2 Politische Aspekte von archaischen lokalen Gruppen
2.3 Politische Aspekte von Stammesgesellschaften
2.4 Politische Aspekte von Häuptlingstümern
2.5 Ausblick auf politische Aspekte von stratifizierten und staatlichen Gesellschaften
3. Fallbeispiele für die Entwicklungsstufen
3.1 Die !Kung San als Beispiel für archaische lokale Gruppen
3.2 Die Tsembaga als Beispiel für eine Stammesgesellschaft
3.3 Die Irokesen als Beispiel für ein matrizentrisches Häuptlingstum
In 4.5 von "Soziales i.e.S." haben wir gesehen, wie sich das Verwandtschaftssystem der Irokesen von den matrilinearen Grossfamilien oder kurz Matrilinien (ohwachira) über die Clans zu den Stämmen aufbaut. Und wir haben erwähnt, wie im 16. Jh. ein politischer Zusammenschluss der Stämme zu einer Liga stattfand. Das zugheörige politische System zeigt nun in interessanter Weise, wie es auf den tieferen Ebenen noch völlig in die Verwandtschaftsstrukturen eingebettet ist, auf den höheren sich dagegen davon abzulösen beginnt. Dazu Irene Schumacher:
Bei der Verbindung der Stämme zu einem einheitlichen Ganzen rekurrieren die Irokesen zwar auf Verwandtschaft als integrierendes Element; die eigentlichen Ursachen, die den Zusammenhalt des Stammesverbandes gewährleisten, liegen jedoch ausserhalb der bindenden und strukturierenden Möglichkeiten von Verwandtschaft.126
Schumacher 1997, 105.
Das System baut sich über Positionen von Häuptlingen auf, die von Ratsversammlungen gewählt werden. Somit handelt es sich tatsächlich um das Beispiel eines Häuptlingstums mit hierarchischen Zügen, aber die Häuptlinge verfügen über keine Macht im Sinne von Herrschaft, d.h. keinerlei Sanktionsmöglichkeiten. Tatsächlich können sie ihre Anliegen nur mittels Überzeugen und Überreden durchzusetzen versuchen. Sie geniessen auch keine weiteren Privilegien und können von den Ratsversammlungen auch wieder abgesetzt werden. Versuchen wir eine etwas summarische Beschreibung dieses Systems.
In jeder ohwachira gibt es eine weibliche und eine männliche Ratsversammlung: Die Ratsversammlung der Mütter und erwachsenen Mädchen stellt die politische Institution der Arbeitsgemeinschaft der Frauen dar, diejenige der Krieger den politischen Arm der Jagd- und Kriegsvereinigungen der Männer. Diese halten ihre Sitzungen in der Regel getrennt ab. Steht ein Thema zur Diskussion, das die ohwachira insgesamt betrifft, findet im gegenseitigen Kontakt eine Abstimmung der Meinungen statt. Für eine Reihe von ohwachira-internen Ämtern werden die Personen (Frauen und Männer) vom weiblichen Rat gewählt - die Männer können, müssen aber nicht, beigezogen werden. Zu beachten ist dabei, dass die Frauen je nach Zahl ihrer Kinder ein unterschiedliches Stimmengewicht haben. Erst wenn die Frauen sich nicht einigen können - es gibt keine Mehrheitsabstimmungen, sondern immer eine übergreifende Konsenssuche - dürfen die Männer einen Kandidaten aus ihrer Mitte wählen. Am höchsten stehen zwei Häuptlingspositionen, die (wie schon in 4.5.2 von "Soziales i.e.S." genannt) von einer älteren Frau (royaneh) und einem erfahrenen Mann, dem sog. "obersten Krieger" besetzt werden. Die Versammlungen der ohwachira haben auch das Recht, Vorschläge und Kritiken auszuarbeiten, die den politischen Gremien der oberen Ebenen unterbreitet werden können, also eine Art von Initiativrecht.127
Siehe Schumacher 1997, 116-117, und Karl-Heinz Schlesier 1997, 81.
Einige ohwachira sind nun gegenüber anderen privilegiert, indem sie im Besitze von erblichen Titeln128
Zu beachten ist hierbei, dass "erblich" einfach heisst, dass der zugehörige Titel im Besitz der fraglichen Matrilinie bleibt. Wird ein Amt von einem Mann besetzt und ist es momentan verwaist, wird nicht automatisch derSohn des vorherigen Inhabers Nachfolger, es kann auch sein Bruder, sein Neffe, sein Cousin etc. sein.
für politische und religiöse Ämter auf den oberen Ebenen der politischen Hierarchie sind, Ämter, die nun fast ausschliesslich von Männern besetzt werden, von solchen aber, die die Frauen gewählt haben. Eine derart ausgezeichnete Matrilinie hat natürlich zusätzliche Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf höherer Ebene. Zunächst ist die Organisation eines Clans noch ein gewissermassen vergrössertes Abbild einer ohwachira. Auch hier steht noch eine Hauptfrau (go yani) an der Spitze und ihr ist ein männlicher Häuptling (ho yani) beigegeben. Daneben bestehen noch eine Anzahl von untergeordneten Positionen mit militärischer oder religiöser Bedeutung. Es können auch Ratsversammlungen aller Frauen und Männer einberufen werden, aber diese haben, wie dann auch auf der nächsthöheren Ebene des Stammes, einen weniger formellen Charakter und sind weniger stark institutionalisiert als diejenigen der ohwachira. Trotzdem können sie versuchen, durch Gespräche auf die Häuptlinge Einfluss zu nehmen. Diese bilden die Stammesregierung, und zwar in der Form von zwei Arten von Räten, einem Friedensrat und einem Kriegsrat. Im Friedensrat haben von den privilegierten ohwachira bestimmte, also mit erblicher Position ausgestattete, männliche Häuptlinge, sog. sachem, vermutlich zusammen mit den weiblichen royaneh, das Sagen. Im Kriegsrat dagegen sitzen nun ausschliesslich Männer, und zwar handelt es sich hier nun nicht mehr um erbliche Titel, sondern diese Männer werden aufgrund von militärischer Begabung und kriegerischer Auszeichnungen vom Stamm gewählt, wobei im Sinne einer gewissen ausgleichenden Gerechtigkeit Männer aus denjenigen ohwachira berücksichtigt werden, die über keine erbliche Positionen verfügen. Sie sind unter der englischen Bezeichnung "pine tree chiefs" bekannt geworden. Das letztlich entscheidende Stammesorgan ist aber ein Ältestenrat, der die Beschlüsse der Häuptlingsräte ratifizieren muss, wonach ein Entscheid erst endgültig ist.129
Vgl. Schumacher 1997, 119-120, und Schlesier 1997, 82.
Das höchste Amt im politischen System der Irokesen ist das des sachem, also (männlichen) Friedenshäuptlings, der als Mitglied des Rats der Liga gewählt wird. Wiederum ist dies eine Position, die in ausgezeichneten ohwachira, 50 an der Zahl, erblich ist und durch Embleme wie Wampumbänder130
Dies waren Perlbänder, die aus einer Muschelart hergestellt wurden (vgl. Reader's Digest 1991, 130 f.).
und Geweihkronen symbolisiert wird. Die sachem dürfen nicht aus eigenem Antrieb zusammentreten, sondern nur auf Verlangen mindestens einer der Stämme. Es soll damit die Möglichkeit einer Konspiration verhindert werden. Sie können auch wieder abgesetzt werden, wenn sie zu allzu eigenwilligen Aktionen neigen. Zu den Ratsversammlungen der sachem können "pine tree chiefs" mit beratender Funktion beigezogen werden.131
Nach Schumacher 1997, 121-122, und Schlesier 1997, 83.
Auf der Ebene der Liga verschwinden die Frauen völlig von der politischen Szene. Schumacher meint aber, infolge der geringen Distanz, die zwischen Führung und Volk in diesem System der Irokesen bestanden habe, hätten die Frauen implizit auf das politische Geschehen oberhalb der Ebenen der ohwachira und der Clans doch einen beträchtlichen Einfluss ausgeübt. Darüber hinaus wurden ja die Friedenshäuptlinge formell von den Frauen gewählt. Auf die Wahl der Kriegshäuptlinge dagegen hatten sie wenig oder keinen Einfluss, und auch nicht auf Entscheide bezüglich der Frage, ob ein Stamm oder die ganze Liga Krieg führen sollte oder nicht. Sie konnten aber einen gewissermassen letzten Trumpf ausspielen. Wurde beschlossen, irgendwohin eine militärische Expedition zu entsenden, musste diese mit Kleidungsstücken und Nahrungsmitteln ausgerüstet werden. Über die Ressourcen hatten aber die Frauen die Kontrolle und sie konnten mit einer Verweigerung von deren Freigabe einen ihnen missliebigen Entscheid boykottieren.132
Vgl. Schumacher 1997, 120-121.
Wie kriegerisch sich die Irokesen überhaupt verhielten, wird etwas kontrovers diskutiert. Nach Schumacher handelte es sich meist um kleinere Scharmützel, die grossenteils auf privater Initiative und Abenteuerlust beruhten.133
Schumacher 1997, 119.
Im Reader's Digest-Buch über die Indianer dagegen wird gesagt: "... the Iroquois ... formed a confederacy ... that spread death and destruction throughout the Northeast."134
Reader's Digest 1991, 121.
Der Grund für die Bildung dieser Konföderation, so wird übrigens gesagt, sei der gewesen, dass sich das System der Blutrache, das auch zwischen den Stämmen spielte, derart aufgeschaukelt hatte, dass die Gefahr der gegenseitigen Vernichtung bestand. Nach der Legende hat ein Mohawk namens Hiawatha in einem weissen Kanu dipomatische Missionen von einem Stamm zum andern unternommen und es schliesslich geschafft, sie zu einem Bündnis zu bewegen.135
Vgl. Reader's Digest 1991, 126-127.
Insgesamt war die Stellung der Frauen bei den Irokesen sehr hoch, so dass es auch aufgrund ihres allgemeinen Einflusses, nicht nur aufgrund der verwandtschaftlichen Organisation, sicher berechtigt ist, von einer matrizentrischen Gesellschaft zu sprechen. Die grosse Wertschätzung, die den Frauen zukam, sei noch durch das folgende Detail illustriert: Die ohwachira war zur Blutrache verpflichtet, d.h. war eines ihrer Mitglieder von einem Angehörigen einer anderen ohwachira ermordet worden, verlangte dies nach einer Genugtuung in der Form eines Opfers auf der Seite der schuldigen ohwachira. Allerdings gab es einen traditionellen Mechanismus, um nach Möglichkeit endlose Reihen von Bluttaten zu verhindern. Dieser bestand darin, dass die schuldige der betroffenen Seite eine Kompensation in der Form einer Anzahl von Geschenken bezahlte. Dabei war ein Mann 30, eine Frau aber 40 Geschenke wert.136
Nach Schumacher 1997, 101.
Das politische System der Irokesengesellschaft erscheint als ein äusserst demokratisches Gebilde von "checks and balances". Wenig bekannt ist, dass es in wesentlichen Zügen als Vorbild für die Gestaltung der amerikanischen Verfassung diente. Vor der Unabhängigkeit hatten sich 13 verschiedene und relativ souveräne Kolonien gebildet. Die Leute, die mit der Abspaltung vom Mutterland liebäugelten, mussten sich die Frage stellen, wie daraus ein einziges Land enstehen könnte, ohne dass seine Teile ihre Selbständigkeit verlieren würden. Dies war nicht offensichtlich, da es vom europäischen Hintergrund zu jener Zeit noch kaum Modelle von demokratischen poltischen Systemen gab. Es wird berichtet, ein Irokesenhäupting namens Canassatego sei der erste gewesen, der anlässlich eines englisch-indianischen Treffens eine Union vorschlug. Die Indianer fänden es schwierig, so meinte er, sich mit so viel verschiedenen kolonialen Verwaltungen herumschlagen zu müssen. Als Vorbild skizzierte er das politsche System der Irokesen. Benjamin Franklin (1706-1790), 1776 Mitunterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, war ursprünglich ein Buchdrucker, der für die Kolonie von Pennsylvania alle offiziellen Dokumente druckte, die die Indianer betrafen. Im Laufe dieser Arbeit begann er sich für deren Kultur zu interessieren und dank seiner Kenntnisse wurde er schliesslich zum Bevollmächtigten von Pennsylvania für Indianerfragen bestimmt. Dies gab ihm die Gelegenheit, die Irokesen-Liga eingehend kennenzulernen. Schon früh vertrat er für die Kolonisten die Schaffung eines politischen Systems nach diesem Vorbild. Ein solches wurde dann aber erst mit der Verfassung von 1787 verwirklicht, wenn auch nicht mit all den Details, die Franklin vorgeschwebt hatten.137
Siehe dazu Jack Weatherford 1988, 135 ff.
Übrigens: Indem die Verfassung des schweizerischen Bundesstaates von 1848 wesentliche Impulse aus einem Interesse an der amerikanischen Verfassung erhielt, ist letztlich auch das politische System der Schweiz von den Irokesen beeinflusst!138
Siehe dazu Bruno Vanoni 1998 und Oswald Iten 1999. Was dabei allerdings nicht passierte: Die Stellung der Frauen im System der Irokesen wurde nicht kopiert ...
Da wir für die Tsembaga in 3.2 und dann auch für die Hawaiianer in 3.4 etwas über die umweltbezogenen Auswirkungen der betrachteten politischen Strukturen zu sagen in der Lage sind, wäre es interessant gewesen, dasselbe auch für den Fall der Irokesen tun zu können. Aber ausser der auf heute bezogenen, sehr allgemeinen und nicht sehr aussagekräftigen Feststellung: "Those Iroquois who follow the traditions of their ancestors perceive people and land as spiritually and politically integrated"139
In Robert W. Venables 1980, 81.
habe ich zu dieser Frage keine Angaben finden können.
3.4 Die Hawaiianer als Beispiel einer stratifizierten Gesellschaft
4. Hypothesen zur Entstehung politischer Gesellschaften
4.1 Endogene Hypothesen
4.1.1 Die Überschuss-Hypothese von Gordon V. Childe
4.1.2 Die Redistributions-Hypothese von Elman R. Service
4.1.3 Die hydraulische Hypothese von Karl A. Wittfogel
4.1.4 Die Privateigentums-Hypothese von Friedrich Engels
4.2 Exogene Hypothesen
4.2.1 Die Begrenzungs-Hypothese von Robert L. Carneiro
4.2.2 Die Eroberungs-Hypothese von Herbert Spencer, Friedrich Ratzel u.a.
4.2.3 Die Notzeiten-Hypothese von Max Weber
5. Freiheit und Liberalismus
5.1 Freiheit als Willkür versus Freiheit in Verantwortung
5.2 Negative versus positive Freiheit
5.3 Die "Tragödie des Liberalismus"
6. Demokratie und Ökologie
6.1 Staatsversagen
6.2 Politischer Kommunitarismus
6.3 Ökologischer Kommunitarismus
6.3.1 Spirituelle Entwicklung der Individuen
6.3.2 Politische Dezentralisierung und Selbstbestimmung
6.3.3 Bioregionale Organisation
7. Zur ökologischen Gesellschaftsutopie
7.1 Allgemeines
7.2 "bolo'bolo": Ein konkreter Entwurf
Zitierte Literatur