www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

6.3.2 Politische Dezentralisierung und Selbstbestimmung

Die politische Dimension i.e.S. haben wir zwar schon in 6.2 behandelt, aber unter einer erweiterten ökologischen Perspektive, müssen wir, da es Wechselwirkungen gibt, noch einmal darauf zurückkommen.
Mit zunehmender Grösse gesellschaftlicher Gebilde wachsen die Unüberschaubarkeit, die Anonymität, die Systemzwänge und insgesamt damit die Unmöglichkeit, dass die Verantwortung für das, was geschieht, irgendwo angesiedelt werden könnte. Naess sagt: "... the greater the size of the units as a whole the less possibilities exist for individual creativity. There is less possibility for each member of the unit to have a comprehension of what is going on."236 Eine umfangreiche Gesellschaft ist aber auch ineffizient, indem die in sozialen Kosten und Ressourcenverbräuchen gemessenen Aufwendungen, die von ihr zur Aufrechterhaltung ihres politischen und wirtschaftlichen Apparates verbraucht werden müssen, im Vergleich zu ihrer Bevölkerungsgrösse überproportional steigen.237 Um diese Probleme zu vermeiden, gibt es nur eines: Eine Beschränkung der Reichweite gesellschaftlicher Beziehungsnetze, jedenfalls so weit diese relevante Umweltauswirkungen zur Folge haben, auf regionale bis lokale Zusammenhänge. Schon in der Antike vertrat Aristoteles die Meinung, eine Gemeinschaft müsse eine Grösse haben, die allseitige persönliche Bekanntschaft erlaube, sonst würden die Verwaltungs- und Rechtsgeschäfte schlecht ausgehen.238 Dryzek spricht von der Notwendigkeit einer "radikalen Dezentralisierung" bis hin zu "praktischen Anarchien" auf regionalem bis lokalem Niveau.239 Mit andern Worten es ist eine Selbstverwaltung (und damit auch Selbstverantwortung) von Gemeinschaften innerhalb von geographisch überschaubaren Räumen gefragt.240 Anarchie: Das ist natürlich ein Reizwort, aber es geht hier nicht unbedingt um die gänzliche Absenz des Staates, aber doch um seine Entlastung um Aufgaben, die er, wie die Überlegungen zum Staatsversagen gezeigt haben (vgl. 6.1), doch nicht effektiv wahrnehmen kann. Erinnern wir uns jedenfalls daran, dass Stammesgesellschaften ohne die Existenz eines Staates als "regulierte Anarchien" funktioniert haben (vgl. 2.3). Natürlich können wir heute nicht mehr an eine Art von impliziter Regulierung denken, wie sie damals bestand, und deshalb schlägt auch Dryzek als weiteres wahrzunehmendes Prinzip das der "praktischen Vernunft" vor. Damit meint er eine Implementierung von Verfahren, die sich am Konzept der kommunikativen Rationalität von Habermas orientieren.241 Zwar haben wir oben angedeutet, dass dieses Konzept zu kurz greift, weil es in einseitiger Weise am vertragstheoretischen Ideal der liberalen Demokratie anknüpft, aber wer weiss, vielleicht lässt sich in Kombination mit dem tiefenökologischen Ansatz der Selbstrealisierung dieser Mangel überwinden.

Anmerkungen

236
Naess 1993, 143.
237
Nach Leopold Kohr 1986.
238
Nach Murray Bookchin 1988, 102-103.
239
Vgl. Dryzek 1987, 216 ff.
240
Zu anarchistischen Gesellschaftsmodellen siehe Rolf Cantzen 1984 und auch die kurzen Hinweise in Steiner 1995, 271-272.
241
Siehe Dryzek 1987, 200 ff.