www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

4.2.3 Die Notzeiten-Hypothese von Max Weber

Auch hier wird angenommen, dass ein externer Faktor für die Bildung staatlicher Gesellschaften verantwortlich ist, und zwar geht es um ausserordentliche Notsituationen. Dabei kann es sich um eine Veränderung der Umweltsituation (z.B. lange anhaltende Trockenzeit) handeln, die Gruppen oder eine ganze Gesellschaft zu Wanderungen zwingt, oder aber um eine militärische Bedrohung durch einen Nachbarn, der Eroberungsgelüste hat. Im letzteren Fall haben wir es dann gewissermassen mit dem Gegenstück zur Eroberungs-Hypothese zu tun. Schon Max Weber (1864-1920) vertrat die Auffassung, dass während Notzeiten natürlicherweise charismatischen Personen die Führung anvertraut werde, die dadurch zur Herrschaft gelangen könnten.168 Zwar sind Notsituationen normalerweise vorübergehend, aber wenn der Herrschende aus seiner Gefolgschaft einmal einen Erzwingungsstab etabliert hat, der über die Ausführung seiner Befehle wacht, kann er seine Herrschaft sichern. Die Entwicklung wird unumkehrbar.169 Fried allerdings glaubt nicht, dass politische Gesellschaften aus der Verfestigung der Position von zunächst nur temporären Kriegsführern hätten entstehen können, denn bei den ursprünglichen Formen primitiver Kriegsführung hätte jeder Mann für sich allein gekämpft, ohne Koordination und ohne Befehle von oben. Er denkt, dass militärische Strukturen eher die Folge der Entwicklung komplexerer Gesellschaften mit höherer Organisation und Technologie sind.170

Anmerkungen

168
Siehe Max Weber 1956, 662, 669 (zitiert in Sigrist 1979, 213).
169
Weiteres zu Notzeiten-Mechanismen, die eine Zentralisierung erzeugen, siehe bei Sigrist 1979, 212 ff. und Göttner-Abendroth 1988, 60 ff.
170
Vgl. Fried 1967,105-106.