www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

4.2.2 Die Eroberungs-Hypothese von Herbert Spencer, Friedrich Ratzel u.a.

Eingedenk des Spruchs von Heraklit: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" unternahm schon vor mehr als 100 Jahren der englische Soziologe und Philosoph Herbert Spencer (1820-1903) erstmals eine sorgfältige Untersuchung der Rolle der Kriegsführung in der Entstehung staatlicher Gesellschaften.161 Daraus ergab sich später die Eroberungs-Hypothese, wie sie etwa von Friedrich Ratzel (1844-1904) vertreten wurde. Nach ihm haben kriegerische Hirtennomaden friedliche Ackerbau-Völker überfallen und waren dann zur Aufrechterhaltung der Herrschaft über die Besiegten zum Aufbau eines Verwaltungsapparates gezwungen, mit Hilfe dessen auch Steuern eingezogen wurden. Ratzel schreibt:
In dieser militärischen Organisation, die mit der sozialen und politischen verbunden ist, liegt es, dass die Hirtennomaden nicht bloss die geborenen Wanderer, sondern auch die geborenen Eroberer sind. Soweit es in der alten Welt Steppen gibt, so weit reichen auch die von Hirten aufgerichteten Staaten.162
In ähnlicher Form ist die Hypothese danach auch von Franz Oppenheimer wieder aufgegriffen worden.163 Carneiro wiederum weist auf die Schwächen der Eroberungs-Hypothese hin: Erstens sind die Hochkulturen der Neuen Welt in einem Umfeld entstanden, in dem Hirtennomaden nicht existierten, und zweitens scheint es heute erwiesen zu sein, dass die Entstehung des Viehzucht-Nomadismus jüngeren Datums als die der ersten staatlichen Gesellschaften ist. Allerdings, so Carneiro, sei nicht abzustreiten, dass bei der Geburt eigentlich aller bekannter Staaten der Krieg die eine oder andere Rolle gespielt habe, allerdings nicht in der einfachen Weise der Eroberungs-Hypothese.164 Fried weist darauf hin, dass die Häufigkeit der Kriegsführung mit dem Grad der Komplexität der gesellschaftlichen Organisation zunimmt.165 Kent V. Flannery dagegen meint, vorläufig lägen keine stichhaltigen Beweise vor, dass Krieg wirklich eine Ursache und nicht bloss eine Folge der Bildung von Staaten sei.166 Eine Eroberungs-Hypothese neueren Datums wird von feministischer Seite vertreten, bei der es nicht direkt um eine Erklärung für die Entwicklung von Staaten geht, sondern um diejenige patriachaler Herrschaftsstrukturen.167

Anmerkungen

161
Siehe Carneiro 1967, 32-47, 63-96, 153-165.
162
Friedrich Ratzel 1909, 99. Dürrenberger (1989, 121) meint aber, Ratzels Eintreten für eine Eroberungs-Hypothese sei nicht so klar, er sei zum Teil falsch rezipiert worden.
163
Siehe Franz Oppenheimer 1926.
164
Vgl. Carneiro 1973, 158-160.
165
Siehe Fried 1967, 214.
166
Vgl. Kent V. Flannery 1972.
167
Mit Bezug auf die Archäologin Marija Gimbutas habe ich schon in 5.1.1 von "Soziales i.e.S." darauf hingewiesen.