www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

5.3 Die "Tragödie des Liberalismus"

Die politische Philosophie der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert war auf die Anerkennung von grundlegenden Menschenrechten gerichtet, wozu als wesentliches Gut die Freiheit gehörte. Dies war damals natürlich ein aktuelles Thema, indem tatsächlich die Befreiung des einzelnen Menschen von der Willkür der Staatsmacht erkämpft werden musste. Dieses politische Ideal kommt in den berühmten Worten zum Ausdruck, mit denen die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) beginnt:
Wir halten folgende Wahrheiten für selbstverständlich: dass alle Menschen von der Schöpfung her gleich sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt sind; dass unter diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück sind ...187
Wie wir wissen, kam es danach auch in Europa allmählich zur Befreiung der Menschen von politischer Herrschaft und zur Entstehung der Staatsgebilde, die wir heute westliche Demokratien nennen. Damit aber konnte auch eine gesellschaftliche Rationalisierung in Gang kommen, Rationalisierung verstanden als "Prozesse der Ablösung von zufälligen, planlosen, traditions- und brauchtumsgebundenen durch überlegte, mittel-zweck-orientierte, kalkulierte und entsprechend organisierte, systematisch geplante Handlungsformen."188 Dieser Vorgang gliederte einerseits die Gesellschaft in institutionell spezialisierte Funktionsbereiche wie Religion, Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft usw.189 und mündete andererseits auch in weiteren arbeitsteiligen Strukturen innerhalb dieser Systeme. Deren Funktionsausübung wurde damit in ihrer Effizienz beträchtlich gesteigert, aber die Entwicklung lässt uns im Resultat mit einer Ambivalenz hinsichtlich der Möglichkeit menschlicher Freiheit zurück. Günter Hartfiel beschreibt dies so:
In der mit Rationalisierung verbundenen Beherrschung der Natur und der sozialen Lebensbedingungen durch den Menschen wird einerseits eine Bedingung für menschliche Freiheit erkannt. Andererseits bedeutet Rationalisierung durchgängige Systematisierung, Aufbau von relativ stabilen ... Beziehungsgefügen zwischen den Elementen (Personen und Sachen) von Organisationen, ... verbindliche Regeln und Verfahrensweisen, Befehl und Gehorsam, Abhängigkeit, Unterordnung und Fremdbestimmung.190
Das Ergebnis der Entwicklung zur Moderne hat also einen durchaus zwiespältigen Charakter: Erhöhte Freiheit haben wir mit erhöhter Abhängigkeit erkauft.191 Selbst die erstere ist heute mit negativen Vorzeichen verbunden: Zwar leben wir in einer Gesellschaftsordnung, die uns ein grösseres Möglichkeitsfeld der Lebensgestaltung eröffnet als je zuvor.192 Damit ist aber auch eine Atomisierung der Gesellschaft verbunden. "Erfolge können sich in Misserfolge verkehren, wenn nicht rechtzeitig bemerkt wird, dass sie weit genug erreicht sind, um keinen Vorrang vor anderen Zielen mehr zu verdienen," meint Meyer-Abich.193 Mit anderen Worten: Der Schutz des Einzelnen vor Übergriffen der Staatsmacht war einmal ein berechtigtes Ziel, aber heute haben wir mit dem entgegengesetzten Problem zu tun, mit der Gefährdung der Allgemeinheit durch die allzu autonom gewordenen Individuen. Die Theorie der liberalen Gesellschaft, wie sie etwa von Thomas Hobbes (1588-1679) vertreten wurde (vgl. 3.1 in "Kulturelle Evolution") verkehrt sich in ihr Gegenteil. In ihr war ja die Vorstellung enthalten, die Menschen hätten ursprünglich in einem Zustand völliger Ungebundenheit als voneinander unabhängige Individuen existiert und erst später zu einem vertraglich gesicherten Miteinander zusammengefunden, um einen Krieg aller gegen alle zu vermeiden. Heute ist es in Wirklichkeit so, dass das Miteinander in den atomisierten Zustand auseinanderbricht. In dieser Verkehrung, so Meyer-Abich, liegt die "Tragödie des Liberalismus".194
Diese Diskussion zeigt, dass individuelle Freiheit und individuelle Autonomie nicht dasselbe bedeuten und dass das Problem in der Überbewertung der letzteren liegt. Die liberale Demokratie wird als eine Form der Gesellschaft gesehen, die eine ungebremste Selbstverwirklichung der Individuen ermöglichen soll. Selbstbestimmung wird zum Selbstzweck; ein gesellschaftliches System, in dem die Individuen alles bekommen, was sie wollen, aber unter der Regie einer paternalistischen Aufsicht, wäre von diesem Standpunkt aus nicht akzeptabel. Die Idee der Gesellschaft wird damit zum blossen Aggregat von autonomen Individuen degradiert.195 Dass wir damit den Ast absägen, auf dem wir sitzen, wird von Nutz klar und deutlich formuliert. Er forscht nach den Ursachen für "die Destruktion der modernen demokratischen Gesellschaften z.B. durch Korruption, Gewalt, Brutalität, Vandalismus, Terror, Radikalismus usw. und für die Zerstörung unserer Umwelt" und erachtet "die ... in allen Verfassungen der westlichen Demokratien verankerte individuelle oder persönliche Freiheit als die gefährlichste dieser Ursachen, weil der Gebrauch, der davon gemacht wird, so gefährlich ist."196 Kommt dazu, dass die Solidarität, die im sozialen Miteinander einmal spielte, sich weitgehend aufgelöst hat, weil ja die Lösung aller Probleme dem Staat überantwortet werden kann.
Das oft unverfrorene Einfordern individueller Rechte von der Gemeinschaft beruht auf der festen und genauso unverfrorenen Überzeugung, dass aufgrund seiner verbrieften Freiheitsrechte diese Gemeinschaft für ihn, den Einzelnen, da zu sein hat und dass er, der Einzelne, keineswegs der Gemeinschaft eine Gegenleistung schuldig ist.197
Das Fazit von Nutz: Wir sind auf dem Weg zum "Zivilisations-Selbstmord".198
Im obigen, den Prozess der Rationalisierung betreffenden Zitat von Hartfiel war aber zweitens noch von den neuen Zwängen die Rede, die uns die heute übersteigerte funktionale Differenzierung der Gesellschaft beschert. Die Funktionssysteme folgen ja einer je spezifischen Logik und indem sie dies tun, nehmen sie ein Eigenleben an: Ihre Regeln dienen mehr ihrem eigenen effizienten Funktionieren und weniger dem Zusammenleben der Menschen. Die Individuen aber, wenn sie Mitglied der Gesellschaft bleiben oder, extremer ausgedrückt, überleben wollen, müssen sich am durch diese Systeme ausgelösten Geschehen beteiligen. Das System, dessen Eigenleben uns heute die grössten Probleme beschert, ist zweifellos das Wirtschaftssystem. Der Zwang zum Mitmachen, der gerade im wirtschaftlichen Bereich ausgeprägt ist, steht in merkwürdigem Kontrast zum Credo der ökonomischen Mainstream-Theorie, das das System des uneingeschränkten Marktes, an dem sich alle nach Lust und Laune beteiligen können, geradezu als wesentlichen Ausdruck der menschlichen Freiheit und damit als Grundlage jeglicher Demokratie sieht. Da die Hardliner unter den Ökonomen (und auch Ökonominnen) dieses Paradoxon nicht sehen können oder wollen, sind in dem, was sie sagen, oft Absurditäten enthalten. Ein Beispiel: In der Tagespresse schrieben Bruno S. Frey und Iris Bohnet vor einigen Jahren unter dem Titel "Wirtschaft bringt Freiheit" einerseits: "Die freie Marktwirtschaft realisiert urdemokratische Postulate" und andererseits: "Keine Unternehmung und kein Staat kann sich über längere Zeit ungestraft dem internationalen Handel verschliessen."199 Freiheit fürwahr!
Zwar hat die Beteiligung am wirtschaftlichen Geschehen tatsächlich auch eine freiwillige, nicht nur eine zwangsmässige Seite, aber "freiwillig" ist dabei insofern zu qualifizieren, als damit sehr viel Überredung und Verführung durch das Wirtschaftssystem verbunden ist. Gemeint ist natürlich das Phänomen des Konsumismus. Wie Meyer-Abich darlegt, kann dieses mit dem schon erwähnten atomisierten Zustand der Gesellschaft in Zusammenhang gebracht werden: Die Unsicherheit, die damit verbunden ist - denn Sicherheit kann nun nicht mehr als gemeinsame Sicherheit in der Beziehung zu anderen gefunden werden, sondern nur bei mir selbst -, könnte von einem starken Ich aufgefangen und zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit benutzt werden. Es ist aber einfacher, in einem Zustand der Ichschwäche zu verharren und diese Schwäche mit ausgedehntem materiellem Konsum zu kompensieren, seine Identität gewissermassen in den Konsumgütern zu finden.200 Aber nicht nur hinsichtlich des Materiellen ist Konsumverhalten verbreitet, sondern auch bezüglich der Meinungsfreiheit, indem statt der eigenen Meinungsbildung das Meinungsangebot der Medien konsumiert wird.201 Psychologisch gesprochen handelt es sich dabei um eine "Regression", einen Rückfall auf eine tiefere Stufe der Bedürfnisbefriedigung, die ins Unendliche zielt, weil es sich dabei um eine Ersatzbefriedigung handelt und nicht um eine Sättigung des wahren Bedürfnisses nach persönlichem Wachstum. Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat diese Erscheinung "Die Furcht vor der Freiheit" genannt,202 auch dies ein Aspekt der "Tragödie des Liberalismus".203 Gesucht wäre also der Mut zur Mündigkeit in Freiheit, eine Suche, die zum eigentlichen Projekt der Moderne werden müsste. Aber dazu wären vorgängig Änderungen im Wirtschaftssystem vonnöten, da sonst eine lebendige Demokratie nicht verwirklicht werden könne, meint Meyer-Abich.204

Anmerkungen

187
Nutz 1995, 54.
188
Günter Hartfiel 1976, 545.
189
Diese sind, wie wir uns erinnern, von Niklas Luhmann systemtheoretisch inspiriert als Systeme beschrieben worden, die alle nach einem je spezifischen Informationscode operieren (vgl. 3.5 in "Kulturelle Evolution").
190
Hartfiel 1976, 545.
191
Zu dieser Zwiespältigkeit siehe auch Nutz 1995, 35.
192
Siehe z.B. Benno Werlen, 1994, 2.
193
Meyer-Abich 1997, 439.
194
Siehe Meyer-Abich 1997, 440-449.
195
Vgl. Mathews 1996, 67. Wir erinnern uns bei dieser Gelegenheit, dass die Meinung, eine Gesellschaft gebe es im Prinzip gar nicht, bzw. sei lediglich die Summe dessen, was Individuen täten, offiziell von der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher vertreten wurde.
196
Nutz 1995, 31.
197
Nutz 1995, 36.
198
Nutz 1995, 37.
199
Bruno S. Frey und Iris Bohnet 1996 (Hervorhebungen von mir).
200
Vgl. Meyer-Abich 1997, 450-453, 467.
201
Nach Meyer-Abich 1997, 469.
202
Erich Fromm 1966.
203
Vgl. Meyer-Abich 1997, 456-457.
204
Meyer-Abich 1997, 468-469.