www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

4. Hypothesen zur Entstehung politischer Gesellschaften

Im allgemeinen wird angenommen, dass die neolithische Revolution (Übergang von der nomadischen Lebensweise mit Jagen und Sammeln zu einer sesshaften Lebensweise mit Ackerbau und Viehzucht, zunächst wohl i.a. in Kombination mit Jagen und Sammeln) der Entstehung politischer Gesellschaften vorausgegangen ist. Es gibt aber auch Auffassungen, die die Reihenfolge insofern umkehren, als sie die Landwirtschaft als eine Folgeerscheinung von veränderten gesellschaftlichen, nicht gerade staatlichen, aber einer Art von frühpolitischen Strukturen betrachten. So bringt z.B. die englische Anthropologin Barbara Bender den Ursprung der Landwirtschaft mit der Entstehung von komplexen sozialen Systemen bei den späten Wildbeuter-Gesellschaften in Zusammenhang. Sie glaubt, dass langsam eine stammesartige Organisation in der Form von Allianzen zwischen lokalen Gruppen entstand, und dass diese Bündnissystem durch den Tausch von Gütern, insbesondere auch von Nahrungsmitteln, alimentiert wurde. Hier lag nach Benders Ansicht der Anstoss zu einer Überschuss-Produktion, die ihrerseits eine Einschränkung der Mobilität und schliesslich Sesshaftigkeit zur Folge hatte. Schliesslich soll das Bleiben an einem Ort zur baldigen Erschöpfung der lokalen Ressourcen geführt und damit einen Antrieb für intensivere Nutzung gebildet haben.147
Im allgemeinen scheint aber doch ein Konsens zu bestehen, dass die Ursache der Entstehung politischer, letztendlich staatlicher Gesellschaften in der Erfindung der Landwirtschaft und ihrer Folgeerscheinungen liegt (vgl. dazu Abb.7). Welcher Faktor oder welche Faktoren dabei aber die Hauptrolle gespielt haben, darüber gehen die Meinungen auseinander. In der Folge werfen wir einen vergleichenden Blick auf einige der Theorien oder - besser gesagt - Hypothesen, die in diesem Zusammenhang vorgestellt worden sind. Grundsätzlich lassen sich endogene Hypothesen, die einen Anstoss zur Transformation von innen her annehmen, von exogenen Hypothesen unterscheiden, bei denen ein äusserer Druck eine entscheidende Rolle spielt.
Abb.7: Vereinfachtes Schema möglicher kausaler Beziehungen, die bei der Entstehung staatlicher Gesellschaften eine Rolle gespielt haben könnten. Die gestrichelten Verbindungen stehen für Beziehungen, bei denen sich die Frage stellt, ob sie eine notwendig-konstitutive Rolle gespielt haben, oder lediglich von kontingenter Bedeutung bzw. Begleiterscheinungen der übrigen bestimmenden Faktoren waren.
Abb.7: Vereinfachtes Schema möglicher kausaler Beziehungen, die bei der Entstehung staatlicher Gesellschaften eine Rolle gespielt haben könnten. Die gestrichelten Verbindungen stehen für Beziehungen, bei denen sich die Frage stellt, ob sie eine notwendig-konstitutive Rolle gespielt haben, oder lediglich von kontingenter Bedeutung bzw. Begleiterscheinungen der übrigen bestimmenden Faktoren waren.

Anmerkungen

147
Nach Barbara Bender 1975, zitiert in Richard Leakey 1981, 205. Bender wendet sich damit auch gegen die häufig vertretene, z.B. von Mark N. Cohen (1977) unterstützte Vorstellung, wonach die neolithische Revolution die Folge eines zunehmenden Bevölkerungsdrucks bei den archaischen Gesellschaften war (zitiert in Leakey 1981, 204).