www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

3.4 Die Hawaiianer als Beispiel einer stratifizierten Gesellschaft

Nach der Entwicklungstheorie von Fried muss es zwischen Häuptlingstümern (die er zu den "Ranggesellschaften" rechnet, vgl. Tab.1) und eigentlichen staatlichen Gesellschaften relativ instabile Zwischenformen geben, die seiner Kategorie der "stratifizierten Gesellschaften" entsprechen. Allerdings sei es schwierig, meint er, bei den bis heute existierenden und ethnologisch beschriebenen Gesellschaften dafür wirkliche Beispiele zu finden. Ein Hinweis auf Hawaii im Rahmen seiner Betrachtung deutet aber an, dass die hawaiianische Gesellschaft der voreuropäischen Zeit ein solches Beispiel darstellen könnte.140 Werfen wir im folgenden, gestützt auf eine rekonstruierende Schilderung des deutschen Ethnologen Thomas Bargatzki, einen Blick auf diese Gesellschaft, der auch zeigt, dass deren politisches System schon damals zur Umweltzerstörung führte.
Die polynesische Besiedlung der Inselgruppe von Hawaii dürfte um 400 n.u.Z. erfolgt sein. Es scheint erwiesen zu sein, dass schon vor dem ersten Kontakt mit Europäern (James Cook 1778) das einheimische System im Gefolge von Bevölkerungswachstum die Grenzen der Nahrungsmittelproduktion erreicht hatte: Grosse Teile der tiefergelegenen Gebiete waren in ein gänzlich künstliches Ökosystem mit bewässerten Terrassen für den Anbau von Taro141 und Teichen für die Fischzucht verwandelt worden. Diese Art der Nutzung war aus einem früheren extensiven Wanderfeldbau hervorgegangen, der seinerseits bereits zu Waldzerstörung und Bodenerosion geführt hatte und mit der Zeit die steigenden Bevölkerungszahlen nicht mehr zu ernähren vermochte. Vermutlich war die voreuropäische Zeit auch eine Zeit ständiger Kriege.142
Die voreuropäische hawaiianische Gesellschaft entsprach in ihrer Struktur dem in Polynesien allgemein verbreiteten Modell einer hierarchisch geordneten, aristokratischen Gesellschaft auf der Basis eines "Ramage" genannten, ambilinearen oder nicht-unilinearen Verwandtschaftssystems (vgl. Abb.10 in "Soziales i.e.S.).143 Jede Person in diesem Gesellschaftssystem hatte einen zugeschriebenen Status, der durch deren genealogischen Rang gegeben war. Dieser Rang war von mehreren Kriterien abhängig, so vom Erstgeborenen (Primogenitur) -Prinzip, von der Zugehörigkeit zu einer alten Deszendenzgruppe, von der durch die Länge des Stammbaums gegebenen genealogischen Tiefe und der historischen Bedeutung der Deszendenzgruppe. Das System war so komplex, dass aufgrund des genealogischen Ranges oft keine eindeutige Festlegung des zugeschriebenen Status möglich war. Dies konnte bei der Besetzung von Häuptlingspositionen zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Anwärtern und ihren Anhängern führen. Doch das Konfliktpotential wurde durch den Umstand, dass es neben dem zugewiesenen auch noch einen erworbenen Status gab, noch zusätzlich verschärft. Dieser hatte mit Besonderheiten der Leistungsfähigkeit (mana) der betreffenden Person zu tun. Für einen Häuptling war es nicht möglich, auf Dauer einen Führungsanspruch mittels des zugewiesenen Status allein aufrecht zu erhalten; er musste auch noch über mana verfügen. Das Resultat war, dass meist mehrere Personen aufgrund unterschiedlicher Kombinationen von zugeschriebenem und erworbenem Status Anspruch auf die höchsten Häuptlingsämter erhoben. Mit anderen Worten es herrschte ein Zustand von permanenter Statusrivalität. Dabei wurden die dadurch entstehenden Konflikte einerseits über wirtschaftliche Konkurrenz, andererseits über kriegerische Auseinandersetzungen ausgetragen.144
Die ökonomische Konkurrenz äusserte sich in Form einer Prestigewirtschaft, die auf einem System von Umverteilung beruhte, deren Zweck nicht die Versorgung der Bevölkerung war, sondern umgekehrt deren Besteuerung: Die Untertanen mussten Abgaben leisten, die die Häuptlinge dann im Sinne einer Prachtentfaltung (conspicuous consumption) zur Demonstration ihres mana und weiter zur Versorgung der von der Selbstversorgung befreiten Gefolgsleute (alii) einsetzten. Ansonsten waren die einzelnen, in Gemeinden organisierten Verwandtschaftsgruppen wirtschaftlich autark. Damit aber bestand eine dualistische Wirtschaft: Auf der einen Seite eine Subsistenzökonomie der Gemeinden, die eine Strategie der Minimalisierung (es wird nicht mehr erwirtschaftet, als was man unmittelbar braucht) verfolgte, auf der anderen eine Prestigeökonomie der Elite, die auf eine maximierende Überschuss-Produktion abzielte. Der letztere Mechanismus aber führte über positive Rückkopplung zu einem wachsenden System: Ein Teil des Surplus wurde dazu verwendet, den Kreis der ökonomischen Transaktionen zu vergrössern und weitere Produzenten in das System einzubinden. Das Wachstum dauerte so lange, wie es die geographischen und ökologischen Faktoren (Topographie, Ressourcenbasis, Inselgrösse) erlaubten.145
Der Fall Hawaii ist auch ein Beispiel für das Phänomen, das Rappaport "Usurpation" genannt hat.146 Dabei hisst sich ein gesellschaftliches Subsystem, das zum Wohle des Ganzen eigentliche eine untergeordnete Funktion ausüben sollte, in eine übergeordnete, sozusagen "sakrale" Position hinauf. In der traditionellen hawaiianischen Gesellschaft gab es eine Zweiteilung der Häuptlingspositionen in solche, denen religiöse und solche, denen politisch-ökonomische Macht zukam. Die religiösen Häuptlinge, die über die zeremoniellen Aspekte des Verteilungssystems wachten, waren dabei von höherem Rang als die politisch-okönomischen, die sich um dessen technische und organisatorische Seite kümmern mussten. Mit der Zeit gewann aber das ökonomisch fundierte Prestige an Bedeutung, was die letzteren zur Verbesserung ihres erworbenen Status und schliesslich zur Verdrängung der religiösen Führer von den höchsten Posten ausnützen konnten. Die politisch motivierte Ökonomie wird gewissermassen zur Religion, aber dies ist eine Erscheinung, die uns aus unser eigenen heutigen Gesellschaft am Beispiel der reinen Ökonomie ja auch nicht unbekannt ist.

Anmerkungen

140
Fried 1967, 212.
141
Eine Knollenpflanze, die zur Gattung der Aronstabgewächse gehört, auch Kolokasie oder Blattwurz genannt.
142
[Vgl. Bargatzki 1986, 138-139.
143
E. Adamson Hoebel (1966, 370) beschreibt die Ramage so: "One's ramage consists of that segment of all his kindred [der bilateralen Verwandtschaft] who have an interest in him as a kinsman. The members of a ramage respond to the obligation of kinsmen to be concerned about one another and to rally 'round at times of crisis: birth, puberty, marriage, potlatches and feasts, the occasion of a lawsuit, illness and death. ... The ramage of a black sheep will be smaller and less enthusiastic in its support than the ramage of his socially responsible, reliable, and winning brother." Da es für die Entstehung einer ambilinearen oder nicht-unilinearen Verwandtschaft verschiedene Möglichkeiten gibt, kann eine Person u.U. mehr als einer Ramage angehören (nach Waltraud Grohs-Paul und Max Paul 1981, 120).
144
Nach Bargatzki 1986, 140-141.
145
Siehe Bargatzki 1986, 142-144.
146
Rappaport 1979, 163; siehe dazu auch Bargatzki 1986, 194.