www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

3.1 Die !Kung San als Beispiel für archaische lokale Gruppen

In 4.3 von "Soziales i.e.S." haben wir die sozialen (i.e.S.) Organisation der archaischen Gesellschaft der !Kung San (Buschleute) betrachtet. Hier versuchen wir nun eine Beschreibung der politischen Aspekte dieser Gesellschaft und zwar wiederum aufgrund der Angaben des Kulturanthropologen Richard B. Lee. In einer zusammenfassenden Beurteilung beschreibt er das Leben der !Kung als in relativer Harmonie und ohne grosse Störungen verlaufend, und dies ohne die Existenz einer übergeordneten Instanz, die für Ordnung sorgen würde. "Whatever order there is has to come from the hearts and goodwill of the people themselves," sagt er.95
Wie wir schon wissen, betrachtet eine lokale Gruppe ein bestimmtes, n!ore genanntes Gebiet um ein Wasserloch herum als ihren Gemeinschaftsbesitz, und zwar in einer Form, die fern unserer heutigen Vorstellung von Eigentum ist. In Fragen, die die Nutzung von Ressourcen in diesem Gebiet betrifft, repräsentieren die Ältesten, die k"ausi, die Gruppe. Sind die lokalen Nahrungsquellen einmal erschöpft, können sich die Gruppenangehörigen an ein anderes n!ore bzw. die zugehörigen k"ausi wenden. Im Prinzip hat jede Person der !Kung-Gesellschaft ein Anrecht auf die Ressourcen von minimal zwei n!ore: das des Vaters und das der Mutter, wobei die Hauptbeziehung natürlicherweise zu demjenigen Gebiet besteht, in dem sie wohnt. Durch die eigene Heirat, durch die Heirat von Geschwistern oder Kindern, sowie aufgrund von im Gefolge von Besuchen etablierten Kontakten können Anrechte auf weitere n!ore dazukommen. Mit diesem System gegenseitiger Verflechtungen, bei dem auch zwischen den Gruppen das Gebot der Reziprozität gilt, können kaum je Konflikte um Land auftreten96
In früheren ethnologischen Studien der !Kung ist von der Existenz von Häuptlingen die Rede gewesen, so auch bei Lorna Marshall.97 Lee stellt diesen Befund als irrig dar. Natürlich gibt es die erwähnten "Hauptleute" als "Eigentümer" eines Wasserlochs und des umgebenden Landes. Diese können aber andere nicht wirklich von einem Zugang ausschliessen und weitergehende Kompetenzen haben sie sowieso nicht.98 Lee denkt, dass die Vorstellung von Häuptlingen bei den !Kung durch die Sichtweise der benachbarten Schwarzen beeinflusst ist, die auf das eigene hierarchische System abstellt. Aus der Sicht der !Kung selbst gibt es sicher keine Häuptlinge - sie können mit einer dementsprechenden Frage gar nichts anfangen.99 Oder die fragende Person bekommt eine Antwort wie diese:
Of course we have headmen! In fact, we are all headmen. Each one of us is headman over himself!100
Dies schliesst nicht aus, dass es im Sinne einer sich als Einfluss zeigenden, auf Prestige beruhenden Macht (vgl. 1.2) immer wieder Leute gibt, die bei Gruppenentscheidungen eine führende Stellung haben. Dabei gehen sie aber subtil vor, sie befehlen nie, sondern schlagen nur vor. Je nach Situation werden solcherart führende Personen einander auch ablösen; grundlegend ist auf alle Fälle, dass es sich dabei nie um auf Dauer angelegte oder sogar vererbbare Positionen handelt.101
Im übrigen verfügen die !Kung über kulturelle Ausgleichspraktiken, die verhindern, dass sich als Konsequenz von besonderen Fähigkeiten oder Erfolgen permanente Statusunterschiede einstellen könnten. Diese Praktiken kommen vor allem im Bereich der Jagd zur Anwendung. Diese Tätigkeit ist für die Männer die Gelegenheit, um Prestige zu erringen - wie Lee berichtet, war es auch in den 60er Jahren für einen !Kung-Mann immer noch wichtig, sich als Jäger einen Namen gemacht zu haben, um zu einer Frau zu kommen.102 Damit nun aber ein Jagderfolg nicht zu einem übermässigen Stolz oder gar zu Arroganz führt, wird er von den Genossen als doch im Grunde enttäuschend abqualifiziert, wie auch vom Jäger selbst Bescheidenheit in seinen Aussagen erwartet wird. Wenn z.B. ein Team von Männern von einem Jäger zum Ort geführt wird, an dem er ein Tier erlegt hat, kann sich etwa folgendes Gespräch mit mehr oder weniger humoristischen Untertönen entwickeln.103
Ein Mann aus dem Team:
You mean to say you have dragged us all the way out here to make us cart home your pile of bones? Oh, if I had known it was this thin I wouldn't have come.
Ein zweiter Mann aus dem Team:
People, to think I gave up a nice day in the shade for this. At home we may be hungry but at least we have nice cool water to drink.
Darauf der Jäger:
You're right, this one is not worth the effort; let's just cook the liver for strength and leave the rest for the hyenas. It is not too late to hunt today and even a duiker or a steenbok would be better than this mess.104
Natürlich hat die Gruppe keinerlei Absicht, das Fleisch wirklich liegenzulassen.
Wenn das Zusammenleben der !Kung eingangs als relativ harmonisch bezeichnet worden ist, darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass Konflikte trotzdem möglich sind. In dieser Hinsicht kritisiert Lee die Darstellung der !Kung von Elizabeth Marshall Thomas in ihrem Buch "The Harmless People" als zu sehr dem Bild eines Rousseau'schen Urparadieses entsprechend.105 Die !Kung selbst unterscheiden nach der Intensität drei Konfliktstufen:
1.
Reden in Form von Drohen und Schmähen, ohne körperliche Gewaltanwendung;
2.
Kämpfen, d.h. körperliche Gewaltanwendung, aber ohne Waffen;
3.
Kämpfen auf Leben und Tod, d.h. eine Auseinandersetzung mit Waffen, unter denen sich tödliche Giftpfeile befinden.
Auf jeder Stufe aber gibt es gewisse Mechanismen der Aggressionskontrolle, die eine weitere Eskalation nach Möglichkeit vermeiden sollen. Dies wird am besten noch auf Stufe 1 gelingen. Die !Kung sind sowieso gross im Argumentieren, und zwar beide Geschlechter. In einem Rededuell können sich Dritte einschalten, die dann versuchen, dem ganzen einen humoristischen Dreh zu geben und die Runde in allgemeines Gelächter ausbrechen zu lassen.106 Kommt es trotzdem zu einem Handgemenge, an dem wiederum Männer und Frauen beteiligt sein können, werden sich wiederum Beistehende im Versuch einschalten, dieses aufzubrechen. Auch dann aber kann das Geschehen gelegentlich der Kontrolle gänzlich entgleiten. In Auseinandersetzungen der dritten Art sind dann üblicherweise nur noch zwischen 20 und 50 Jahre alte Männer involviert, wobei die Konflikte sich meist um Beziehungen zu Frauen drehen. Für das Dobe-Gebiet und Umgebung hat Lee für die Zeitperiode von 1920 bis 1955 aus den Erzählungen der Leute 22 Mordfälle rekonstruiert. Dabei waren auch die Opfer meist Männer, nämlich deren 19, während unter den 3 Frauen nur eine wirklich am Konflikt beteiligt war - bei den anderen zwei handelte es sich um unbeteiligte Zuschauerinnen, die bei einem Kampf unglücklicherweise getroffen wurden. Lee bringt diesen Umstand mit der hohen Stellung der Frau bei den !Kung in Zusammenhang und stellt die Situation dem Prozentsatz an weiblichen Mordopfern in westlichen Gesellschaften gegenüber, der 25 bis 50 beträgt!107 Es sind auch Fälle bekannt, in denen eine erste, tödlich endende Auseinandersetzung zu einer ganzen Reihe von Rachemorden führte. Um eine solche Folge zu einem endgültigen Ende zu bringen, kann die Gemeinschaft unter Umständen zu einem drastischen Mittel Zuflucht nehmen: Die gegenwärtige, noch Probleme verursachende Person wird unter allgemeiner Zustimmung umgebracht.108

Anmerkungen

95
Richard B. Lee 1984, 87.
96
Siehe Lee 1984, 87-88.
97
Lorna Marshall 1960, zitiert in Lee 1984, 88.
98
Vgl. Fried 1967, 88.
99
Nach Lee 1984, 88-89.
100
Lee 1984, 89.
101
Siehe Lee 1984, 89.
102
Nach Lee 1982, 235.
103
Zitiert nach Lee 1982, 246.
104
Bei duiker und steenbok handelt es sich um Antilopenarten, die im Deutschen Ducker bzw. Steinböckchen genannt werden. Die lateinischen Namen sind Sylvicapra grimmia bzw. Raphicerus campestris.
105
Elizabeth Marshall Thomas 1959; vgl. Lee 1984, 91.
106
Vgl. Lee 1984, 92-93.
107
Siehe Lee 1984, 91, 93-95.
108
Vgl. Lee 1984, 95-96.