www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

2.5 Ausblick auf politische Aspekte von stratifizierten und staatlichen Gesellschaften

Wie erwähnt ist bei Fried die "stratifizierte Gesellschaft" eine Organisationform, die als eine Übergangsform zwischen Häuptlingstum und Staat bzw. als eine Vorstufe der staatlichen Organisation verstanden werden kann, bei der das Prinzip des Staates implizit schon vorhanden ist. Zur Beibehaltung einer Schichtungsordnung sind Machtverhältnisse mit Sanktionsmöglichkeiten notwendig, die über die Ressourcen, die üblicherweise Verwandtschaftssystemen zur Verfügung stehen, hinaus reichen. Zu den grundlegenden Ressourcen zählen nun eher Kapital- und nicht mehr Konsumgüter, und diese sind nur einem Teil der Bevölkerung zugänglich. Als Folge davon gehören auch die Produkte spezifischen Individuen oder Gruppen. Wer keinen ungehinderten Zutritt zu Gütern mehr hat, muss sich diesen mit einem Arbeitseinsatz erkaufen. Damit aber sind wir am Beginn des Phänomens der Ausbeutung. Insgesamt führt diese Entwicklung zu einer Abschwächung und schliesslich zu einer Zerstörung der Verwandtschaftsbeziehungen.84
Genauer gesagt: Verwandtschaftsbeziehungen existieren natürlich weiterhin, aber sie verlieren ihre politische Bedeutung völlig, indem die verwandtschaftliche Organisation durch einen hierarchischen Aufbau von politischen Klassen ersetzt wird, eine Struktur, die quer zu den verwandtschaftlichen Strukturen verläuft. Bei Ernest Borneman kann man nachlesen, wie diese Umwandlung im alten Rom vor sich ging. Nach der Legende wurde die Stadt Rom 753 v.Chr. durch drei Stämme gegründet, die Ramnes (hauptsächlich Latiner), die Tities (Sabiner) und die Luceres (andere Italiker mit einem starken etruskischen Element). Jeder Stamm (tribus) zerfiel in 10 Bruderschaften (curiae), jede Bruderschaft in 10 Sippen (gentes). Vor der Stadtgründung wählte jede Sippe ihren Sprecher (princeps), der jederzeit wieder abwählbar war. Jede Sippe, jede Bruderschaft und jeder Stamm besassen einen Rat (comitium), der frei und unabhängig von jeglichen Besitzverhältnissen über das Schicksal der Gruppe entscheiden konnte. Dabei konnte der Bruderschaftsrat (comitia curata) seine Stellung bis in spätere römische Zeiten beibehalten. Neu entstand die Institution des Senates (senatus)85, der von den Sippenältesten gebildet wurde. Innerhalb jeder Sippe herrschte noch das alte Prinzip der Reziprozität bezüglich gegenseitiger Hilfeleistung. Noch bis in die späten Zeiten der Republik forderte die Mitgliedschaft in einer Sippe von einer Person eine höhere Loyalität ab als die Gesetze des Staates. Notgedrungen mussten sich daraus Konflikte ergeben.86 Inzwischen war auch die neue Klasse der Plebejer entstanden, der Neuzuzüger nach Rom, die nicht in die bestehende Sippenordnung passten. Sie wurden zwar zu rechtmässigen Bewohnern der Stadt, aber sie hatten kein Stimmrecht und konnten auch keine politische Karriere machen; alle Posten im Staatsdienst waren vorläufig noch Sippenmitgliedern vorbehalten. Servius Tullius (576-533) führte dann eine Reform des politischen Systems durch: An die Stelle der alten Sippenordnung trat eine regionale Aufteilung, der Bruderschaftsrat wurde durch einen Hundertschaftsrat (comitia centurata) ersetzt und die Bürger wurden nicht mehr nach ihrer Abstammung, sondern nach ihrem Einkommen eingeteilt, womit der Blutadel durch einen Geldadel abgelöst wurde. Wer Geld hatte, konnte nun auch Amt und Ehren erlangen. In der Folge entspann sich ein Klassenkampf zwischen den Patriziern (als Vertretern der alten Sippenordnung) und den Plebejern.87 Ein wesentlicher Aspekt dieser ganzen Entwicklung war auch, dass eine ursprünglich matrizentrische Gesellschaftsordung in eine patriarchale transformiert wurde.88
Je komplexer die Gesellschaft, desto komplexer wird auch das System der Arbeitsteilung und desto eher entstehen Arbeitsformen, die immer weiter von der Subsistenzproduktion entfernt sind. In einfachen Gesellschaften können alle erwachsenen Personen alles machen, z.B. Werkzeuge herstellen, während in komplexen Gesellschaften dies nicht mehr möglich ist.89 Umso mehr muss entsprechend ein kompensierendes Umverteilungssystem etabliert werden, und schliesslich ist nur ein staatlisches System in der Lage, den hierzu erforderlichen organisatorischen Aufwand zu leisten. Durch was zeichnet sich nun eine staatlich organisierte Gesellschaft insgesamt aus? Gestützt auf Fried und Sahlins nenne ich die folgenden Punkte:90
·
Es existiert ein zentrales Regierungsorgan, getrennt vom gewöhnlichen Volk und über ihm stehend;
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dieses Organ hat das Gewaltmonopol;
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es führt seine Geschäfte mittels eines Verwaltungssystems aus, das vom Volk Gehorsam verlangt;
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der Staat hat eine räumlich-territoriale Ausdehnung und Unterteilung;
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alle Personen innerhalb des staatlichen Territoriums sind Untertanen, die die herrschenden Gesetze beachten und Abgaben zahlen müssen;
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bisheriges Gewohnheitsrecht wird in formal kodiertes, sog. positives Recht umgewandelt;
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das Territorium wird nach aussen durch einen militärischen Apparat verteidigt, evtl. auch gewaltsam vergrössert.
Sahlins verwendet eine organismische Metapher, um die Bedeutung einer staatlichen Regierung zu illustrieren:
Government is to the social organism as the central nervous system is to the biological organism. Just as in biological evolution, only a certain minimum of cultural complexity was possible prior to the development of a central sovereign mechanism. ... To complete the analogy, a tribe is an animal without a central regulative system.91
Abgesehen von der Gegenüberstellung von Staat und Volk ist ein grundlegendes Merkmal der staatlich organisierten Gesellschaften, jedenfalls derjenigen der Vorantike, der Antike und des Mittelalters, dass sie hierarchische Klassengesellschaften darstellen.92 Klassisch ist die Beschreibung dieser Hierarchie in Form der drei Ordnungen, die Bischof Adalberon von Laon um 1030 als oratores (Betende, d.h. Kleriker und Mönche), bellatores (Kämpfende, d.h. Adel und Ritter) und laboratores (Arbeitende, d.h. Bauern und Handwerker) bezeichnete.93 Georges Dumézil glaubt, dass dieses Schema eine Grundstruktur der indoeuropäischen Gesellschaften überhaupt darstellt.94 Dies ist plausibel und eigentlich nicht überraschend, sofern dem konzeptionellen Modell der Dreiteilung der menschlichen Gesellschaft, wie wir es in Abb.1 in "Kulturelle Evolution" betrachtet haben, eine grundlegendere Bedeutung zukommt. Jede Ordnung entspricht einer der dort gezeigten Ebenen: Die oratores befassen sich mit Fragen der Orientierung, die bellatores kontrollieren die gesellschaftliche Organisation und verteidigen sie nach aussen und die laboratores stellen den Lebensunterhalt bereit. Gelegentlich wird bei dieser Dreiteilung wortspielartig auch vom "Lehrstand", vom "Wehrstand" und vom "Nährstand", insgesamt von der Ständegesellschaft gesprochen.

Anmerkungen

84
Nach Fried 1967, 185-189.
85
Von lateinisch senex = alt.
86
Vgl. Ernest Borneman 1984, 353-354. Siehe dazu auch Lewis Henry Morgan 1978, 300 ff.
87
Siehe Borneman 1984, 363-365.
88
Siehe Borneman 1984, 356 ff.
89
Vgl. Fried 1967, 190.
90
Nach Fried 1967, 235-238, und Sahlins 1968, 6-7.
91
Sahlins 1968, 6-7.
92
Man kann argumentieren, dass wir auch heute noch eine Klassengesellschaft haben, allerdings nicht mehr eine politische, sondern eine ökonomisch begründete. Tatsächlich reserviert Anthony Giddens den Begriff der Klassengesellschaft (class society) für unsere heutige ökonomische Gesellschaft, die nach kapitalistischen Kriterien funktioniert, und macht damit eine Anleihe bei der auf Marx zurückgehenden Gegenüberstellung der beiden Klassen der Kapitalisten (derjenigen, die über die Produktionsmittel verfügen) und der Arbeitenden. Die politischen Gesellschaften nennt Giddens dagegen class-divided societies (Giddens 1984, 181-182.
93
Nach Jacques LeGoff 1990, 18.
94
Siehe Georges Dumézil 1989, zitiert nach LeGoff 1990, 18. Zu den drei Ordnungen siehe auch Georges Duby 1986.