www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Politisches

1.2 Zum Begriff der Macht

In einem engeren Sinne wird Macht oft als eine asymmetrische Beziehung zwischen Personen oder Gruppen von Personen verstanden, die es der einen Seite ermöglicht, mittels Befehl, allenfalls auch unter Gewaltandrohung oder -anwendung, die andere Seite dazu zu bringen, etwas zu tun, was sie selbst gar nicht will. Diesen Eindruck macht etwa die von George A. Theodorson und Achilles G. Theodorson gegebene Definition von power:
power. The ability of an individual or group to carry out its wishes or policies, and to control, manipulate, or influence the behavior of others, whether they wish to cooperate or not.8
Noch deutlicher wird dies beim Kulturanthropologen Morton H. Fried, der sagt: "Power is the ability to channel the behavior of others by threat or use of sanctions."9 Er stellt den Begriff der Macht dem der Autorität (authority) gegenüber: " 'Authority' is taken ... to refer to the ability to channel the behavior of others in the absence of the threat or use of sanctions."10 Er erinnert daran, dass der so verstandene Begriff im Widerspruch zum zeitgenössischen Gebrauch des Wortes "autoritär" steht. Mit Bezug auf Bertrand de Jouvenal meint er, eine "autoritäre Regierung" sei gerade eine, die über nur ungenügende Autorität verfüge und deshalb zu Einschüchterung Zuflucht nehmen müsse.11 Die von Fried getroffene Unterscheidung zeigt, dass es verschiedene Grade der Möglichkeit, andere zu beeinflussen, gibt. Dementsprechend kann in einem weiteren Sinne "Macht" auch als neutraler Begriff aufgefasst werden, der solche präzisierenden Abstufungen zulässt. In den zugehörigen Diskussionen taucht immer wieder die alte Definition des Soziologen Max Weber (1864-1920) auf:
Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.12
Zwar ist hier auch von der Überwindung von Widerstreben die Rede, aber die hier genannte "Chance" stellt ein Schlüsselwort dar: Die Sicherheit, dass die anderen wirklich das tun, was die Machtinhaber wollen, kann verschieden gross sein.
Im folgenden versuchen wir entsprechend ein abgestuftes Verständnis von Macht zu entwickeln. In der Grundstruktur stützen wir uns dabei auf die von Helbling getroffene Dreiteilung in "Einfluss", "Autorität" und "Herrschaft".13 In der Folge werden wir dann sehen, dass mit dieser Folge gleichzeitig die Entwicklung der Machtverhältnisse von den archaischen zu den politischen (staatlichen) Gesellschaften mit dem Übergangsstadium der tribalen Gesellschaften in der Mitte skizziert ist.
1.
Einfluss: Es handelt sich um einfache Beeinflussungsmöglichkeiten durch Überzeugung, die eher situations- als personenabhängig sind. Zwar setzen sie voraus, dass es Personen mit einem gewissen Charisma gibt, deren Meinung sich andere anschliessen, aber derartige Einflussnahmen beziehen sich immer nur auf einen einzelnen Aktivitätsbereich und sind vorübergehend bzw. wandern von einer fähigen Person zur anderen.14
2.
Autorität: Die Ausübung von Autorität ist mit der Ausgabe von Befehlen verbunden, die aber nicht unbedingt befolgt werden, wobei deren Nichtbeachtung auch keine Sanktionen nach sich zieht. Dominanz entsteht nicht durch Einschüchterung oder Gewaltausübung, sondern einfach durch Gewohnheit und Sitte, d.h. im Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung, deren zugrundeliegenden Werte und Normen als "natürlich" oder "selbstverständlich" erscheinen. Im Gegensatz zum Einfluss ist demenstprechend Autorität auch ein regelmässig und wiederholt auftretendes Phänomen, das sich auch auf verschiedene Aspekte des Lebens erstreckt.15
3.
Herrschaft: Die Machtausübung auf dieser dritten Stufe stellt gegenüber der zweiten einen Quantensprung dar. Einer politisch dominanten Person oder einer Personengruppe steht ein Repressionsapparat zur Verfügung, der es erlaubt, die Untergebenen zum Gehorsam zu zwingen. Diese Art von Machtverhältnis hat auch einen dauerhaften Charakter.16
Dieses Verständnis von Herrschaft weicht von dem in der Soziologie üblicherweise vorherrschenden ab. Danach zeichnet sich Herrschaft gegenüber anderen Formen von Macht dadurch aus, dass sie legitimiert und gerade deshalb nicht auf die Durchsetzung eines Willens gegen Widerstrebende angewiesen ist. Legitimation bedeutet, dass es eine Rechtsordnung gibt, die der herrschenden Instanz die Aufgabe zuspricht, das Ganze der Gesellschaft zu repräsentieren, eine Ordnung, von der auch die Beherrschten überzeugt sind, dass sie dienlich und berechtigt ist.17 Die Schwierigkeit dabei ist wohl die, dass es sehr verschiedene Formen von Legitimation geben kann. Die entscheidende Frage, so scheint mir, wäre die, ob die Untergebenen an der Gestaltung der Rechtsordnung beteiligt waren oder nicht. In einer modernen Demokratie wäre dies, wenn auch meist nicht in einem sehr direkten Sinne, der Fall - Demokratie heisst ja schliesslich auch "Herrschaft des Volkes". Insgesamt scheint mir die Helblingsche Auffassung von Herrschaft plausibler und brauchbarer. Wie er sagt, kann ja Herrschaft auch dann noch wirksam sein, wenn sie nicht legitimiert ist.18 Somit wäre der Begriff weitergefasst und müsste jeweils durch die weitere Unterscheidung von Nicht-Legitimation und Legitimation bzw. im letzteren Fall von Arten der Legitimation präzisiert werden.19
Oft werden die erste und die zweite Stufe des Einflusses und der Autorität zusammenfassend unter dem Begriff der "Führerschaft" charakterisiert und der dritten Stufe, der Herrschaft gegenübergestellt.20 Als auf die "Anderen" bezogene Konträrbegriffe werden "Gefolgschaft" und "Untertanenschaft" oder "Dienerschaft" genannt. Der Führer wird als primus inter pares (Erster unter Gleichen), der Herrscher als superior super inferioribus (Höhergestellter über Niedrigergestellten) bezeichnet. Die Gegenüberstellung von Führerschaft und Herrschaft wird mit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies in Verbindung gebracht.21

Anmerkungen

8
George A. Theodorson und Achilles G. Theodorson 1979, 307.
9
Fried 1967, 13.
10
Fried 1967, 13.
11
Fried 1967, 13, Fussnote 5. Dort Bezug auf Bertrand de Jouvenal 1957, 29-30.
12
Zitiert nach Franz Oppenheimer 1982, 91. Oppenheimer meint dazu: "Wir wollen diesen Satz insofern sinngemäss einschränken, als wir das reine Gewaltverhältnis, in dem der Wille des einen nur durch äussere Gewalt oder durch pure Einschüchterung sich durchsetzt, nicht als eine 'soziale Beziehung' betrachten."
13
Siehe Helbling 1987, 44-46.
14
Nach Helbling 1987, 45-46, und Fried 1967, 82-83.
15
Nach Helbling 1987, 45, und Fried 1967, 133-134. Vgl. auch Elman R. Service 1977, 35.
16
Nach Helbling 1987, 44.
17
So z.B. bei Günter Hartfiel 1976, 263.
18
Vgl. Helbling 1987, 45.
19
Die Konfusion wird noch erhöht, wenn wir feststellen, dass z.B. Theodorson und Theodorson (1979, 21-22) den Begriff der Autorität, der bei uns die zweite Stufe der Machtbeziehungen darstellt, verwenden, um damit ein legitimiertes Machtverhältnis zu bezeichnen.
20
Auch Fried (1967, 82 ff. und 133 ff.) redet in diesem Zusammenhang von leadership.
21
Siehe dazu Oppenheimer 1982, 92-93, bezüglich der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft z.B. Ferdinand Tönnies 1982.