www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Soziales

2.4 Schimpansen

Das Verbreitungsgebiet des Schimpansen (Pan troglodytes) fällt ungefähr mit dem Vorkommen des ursprünglichen äquatorial-afrikanischen Regenwaldes zusammen, geht aber zum Teil, einzelnen Gehölzen und Galeriewaldstreifen folgend, auch bis in die Savanne hinaus. Schimpansen leben in Herden von bis zu 50 Tieren und nehmen ein Territorium in Anspruch, das andere nicht betreten dürfen. Innerhalb dieses Gebietes schweifen sie auf der Suche nach Nahrung in grösseren oder kleineren Gruppen oder sogar einzeln umher. Dies deutet schon darauf hin, dass die interne Organisation eine ganz ungewöhnliche Form hat: Es gibt temporäre Gruppierungen, die sich ständig ändern. Ähnlich wie die Mantelpaviangesellschaft (vgl. 2.1) stellt auch die Schimpansengesellschaft ein “Fusion-Fissions-System” dar, allerdings nicht in der sehr systematischen Art, wie es für die erstere der Fall ist. Jedes Individuum geniesst grosse Autonomie, jedenfalls wenn es über etwa 9 Jahre alt ist und sich von der Abhängigkeit von seiner Mutter gelöst hat. Es hat fast völlige Freiheit zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebt. “... it is never possible for a chimpanzee, upon wakening in the morning, to be quite sure whom he will encounter during the day,” schreibt die Schimpansenforscherin Jane Goodall.20
Unter den Männern existiert eine stark formalisierte Hierarchie, die sich in rituellen Formen ausdrückt, mit denen sie einander regelmässig ihren Status kundtun. Diese kann als eine Einrichtung gesehen werden, die Rivalität nach Möglichkeit vermeidet und den Zusammenhalt fördert. Die Interaktionen zwischen Männern haben einen strategisch-geschäftlichen Charakter, sie wickeln sich nach dem Prinzip “wie du mir, so ich dir” ab. Es werden wechselnde Koalitionen eingegangen, immer eingedenk des Umstandes, dass der Freund von heute der Feind von morgen sein kann. Es gibt auch eine Tendenz zur Bildung von Männerbünden. “Erwachsene Schimpansenmänner scheinen in einer hierarchischen Welt mit auswechselbaren Koalitionspartnern und einem einzigen beständigen Ziel zu leben: Macht.”21 Die weibliche Hierarchie ist demgegenüber recht diffus. Frauen leben eher in einer horizontalen Welt sozialer Beziehungen, in der sie zwecks Sicherheit nach Möglichkeit dauerhafte Koalitionen einzugehen versuchen. In ihrer Gruppe können sie durchaus auch beträchtliche Macht ausüben, aber sie tun dies nie auf Kosten ihrer Verwandten oder besten Freunde. All dies schliesst natürlich mögliche Konflikte nicht aus. Die Schimpansen haben aber Mechanismen der Versöhnung nach Streitigkeiten entwickelt, die aus beschwichtigenden Äusserungen und freundlichen Körperkontakten bestehen und so zur Spannungsregulierung und zur Vermeidung von Eskalationen dienen. Interessanterweise kommen nun Versöhnungs-Interaktionen bei Männern bedeutend häufiger vor als bei Frauen. Dies kann damit erklärt werden, dass das momentane Beziehungsnetz für Männer immer mit Unsicherheiten verbunden ist und deshalb ständige Rückversicherung gefragt ist, während Frauen einerseits in guten, stabilen Beziehungen leben, in denen die Notwendigkeit für Versöhnungsakte bedeutend geringer ist, und andererseits gegenüber anderen Individuen eine permanent feindselige Einstellung haben, so dass Versöhnungen sowieso nicht in Frage kommen.22 Gelegentlich kann es bei den Machtspielen der Männer allerdings auch passieren, dass die üblichen Konfliktregelungsverfahren versagen und es zu einem Gewaltausbruch kommt. So schildert de Waal einen Zwischenfall aus dem Arnheimer Zoo, bei dem ein Mann von zwei Kollegen im gemeinsamen Schlafkäfig derart gravierend malträtiert wurde, dass er den Verletzungen erlag.23
Im Sexualleben der Schimpansen herrscht weitgehende Toleranz, es gibt keine grosse männliche Konkurrenz um die Fortpflanzung. Eine Frau paart sich oft kurz hintereinander mit mehreren Männern der gleichen Gruppe. Ausser in dominanter Position ist es für einen Mann auch schwierig, ein exklusives Anrecht auf eine bestimmte Frau geltend zu machen und durchzusetzen.24 Es gibt allerdings, sofern die fragliche Frau einwilligt, die Möglichkeit eines sog. “Consorts”, einem Arrangement, bei dem sich ein Paar allein an die Peripherie des Schweifgebietes der Herde begibt und sich dort ungestört ein paar Tage lang aufhält.25 Im übrigen folgen die Frauen normalerweise einer Exogamieregel, d.h. sie verlassen ihre Herde, wenn sie geschlechtsreif geworden sind, und schliessen sich einer anderen an. Dort werden sie, vor allem, wenn sie brünstig sind, ohne weiteres aufgenommen. Sie tun aber gut daran, diesen Wechsel vorzunehmen, bevor sie eigene Kleinkinder haben, weil von ihren neuen Genossen sonst die Gefahr von Kindstötung und Kannibalismus droht.26 Die Männer dagegen bleiben und sind deshalb in der Regel miteinander verwandt.

Anmerkungen

20
Jane Goodall 1986, 147.
21
Frans de Waal 1993, 56.
22
Nach de Waal 1993, 54-58.
23
Siehe de Waal 1993, 69-70, 76. De Waal meint, es sei möglich, dass die Gefangenschaftssituation bei diesem Vorkommnis eine Rolle gespielt habe, aber nicht sehr wahrscheinlich, weil die drei Männer vorher über Jahre hinweg zusammen waren, ohne dass etwas Ernsthaftes passierte. Er denkt, dass die Wohnverhältnisse zwar eine Gelegenheit für den Gewaltausbruch schufen, aber nicht mehr, dass es dafür tieferliegende Ursachen geben muss.
24
Nach Stephanie Ventling 1985.
25
Siehe Goodall 1986, 453 ff. Zum Sexualverhalten der Schimpansen siehe auch W.C. McGrew 1981, 51 ff.
26
Vgl. McGrew 1981, 56.