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Soziales i.e.S.

Soziales

Vorbemerkung
1. Begriffliches
1.1 Was heisst Soziales i.e.S.?
1.2 Begriffsvokabular der Residenz- und Deszendenzregeln
2. Soziale Systeme bei Tier-Primaten
2.1 Paviane
Dass das Pavian-Modell sich so lange halten konnte, führt Strum darauf zurück, dass es die Möglichkeit einer natürlichen Rechtfertigung unserer patriarchalen Gesellschaft zu offerieren schien:
Unsere menschlichen Ursprünge gehen auf eine von Männern dominierte Gesellschaft mit deutlicher Arbeitsteilung zurück. Die Männchen haben die gesamte Macht inne und die Weibchen erringen ihren Status nur auf Grund ihrer Verbindung mit einem “dominanten” Männchen. In dieser Gesellschaft wetteifern die Männchen miteinander; sie bedienen sich der Gewalt, um Dominanz zu erreichen ...5
Strum 1989, 117.
Abbildung 11: Graphische Darstellung der sozialen Organisation der verschiedenen Menschenaffen und des frühen Menschen (aus Foley 1997, 186). Die umrissenen Flächen deuten Territorien an, die einfachen Striche engere soziale Bindungen zwischen den betreffenden Individuen und die Doppelstriche Verwandtschaftsbeziehungen.
Abbildung 11: Graphische Darstellung der sozialen Organisation der verschiedenen Menschenaffen und des frühen Menschen (aus Foley 1997, 186). Die umrissenen Flächen deuten Territorien an, die einfachen Striche engere soziale Bindungen zwischen den betreffenden Individuen und die Doppelstriche Verwandtschaftsbeziehungen.
Das Leben der Frauen6
Hier und im folgenden verwende ich, auch wenn es um nicht-menschliche Primaten bzw. um vormenschliche Ahnformen geht, die Bezeichnungen “Mann” und “Frau” statt den üblichen Ausdrücken “Männchen” und “Weibchen”.
spielt sich rund um die Babys ab und die Sozialstruktur wird einseitig von den Männern bestimmt. Tatsächlich ist die Paviangesellschaft immer wieder in dieser Weise beschrieben worden, so z.B. von S.L. Washburn und Irven DeVore7
Siehe S.L. Washburn und Irven DeVore 1963.
; es sollte sich aber herausstellen, dass diese herkömmliche Vorstellung schlicht und einfach ein von männlichen Forschern an den Forschungsgegenstand herangetragenes und nie hinterfragtes Vorurteil darstellte. Als Strum vor 25 Jahren die Savannen-Paviane (Papio anubis) in Kenia zu studieren begann, wurde ihr bald klar, dass dieses Bild nicht stimmen konnte. Ein Pavian-Trupp hat eine matrizentrische Struktur, indem sein fester Kern nicht von Männern, sondern von Frauen und ihren Nachkommen gebildet wird, wobei es eine lineare Hierarchie gibt, die eine Rangordnung sowohl innerhalb jeder Familie wie auch zwischen Familien festlegt. Innerhalb einer Familie steht klarerweise die Mutter als Matriarchin an der Spitze, dann kommen die Kinder in umgekehrter Reihenfolge des Alters. Die weibliche Rolle umfasst mehr als bloss das Beschützen der Kinder, sie erstreckt sich auch auf das Hüten der Ordnung. Die Frauen bleiben auch ihr Leben lang in der gleichen Gruppe. Demgegenüber gibt es bei den Männern weder eine lineare noch eine dauerhafte Dominanz, und sie sind auch viel weniger aggressiv als bisher angenommen. Das Leben hat sowieso keine Konstanz für sie, denn sie sind immer nur vorübergehende Gruppenmitglieder. Die im Trupp geborenen männlichen Individuen verlassen ihn, sobald sie die Geschlechtsreife erlangt haben, und schliessen sich einer anderen Gruppe an, bei der sie dann aber auch nicht unbedingt auf immer bleiben; es ist eine zwischen einem Monat und 10 Jahren schwankende Aufenthaltsdauer beobachtet worden.
Es ist aber auch nicht so, dass die Männer bloss machtlose und periphere Figuren sind. Streitigkeiten werden zwar üblicherweise im Rahmen der weiblichen Hierarchie und des weiblichen Familiensystems behandelt, aber wenn es zu keiner Lösung kommt, ist es möglich, dass sich auch ein Mann einschaltet. Auch die Führung des Trupps kann je nach Situation u.U. in männlichen Händen liegen. Die Frauen, die ja wie gesagt immer im gleichen Trupp sind, kennen damit auch den engeren Lebensraum sehr genau, während die Männer weiter herumgekommen sind und auch ausserhalb gelegene Gebiete kennen, was in Notzeiten überlebenswichtig sein kann. Entscheidend ist, dass die Führungsposition nicht permanent vom gleichen Individuum wahrgenommen wird. Insgesamt mag es auch unrichtig sein, von einer matrizentrischen Struktur zu reden - eher herrscht so etwas wie komplementäre Gleichheit.8
Nach Strum 1989, 119-125.
Auf alle Fälle aber ist eine Schlussfolgerung unvermeidlich:
Aggression, männliche Dominanz und männliches Monopol in der politischen Arena gehören nicht zwangsläufig zur Lebensform der Urmenschen. Wenn wir andererseits aber der Meinung sind, dass menschliches Leben auf aggressivem Wettbewerb, auf männlichen Hierarchie-Beziehungen und männlicher Herrschaft beruht, dann sollten wir uns zur Bekräftigung dieses Standpunkts um neue Theorien und neue Antworten auf die Frage, warum dies so sein sollte, umsehen. Wir können nicht länger einfach behaupten, dass das die “natürliche Ordnung gesellschaftlichen Lebens” sei.9
Strum 1989, 125 .
In einem ausgesprochenen Gegensatz zu den Savannenpavianen stehen die sozialen Verhältnisse bei den auf beiden Seiten des Roten Meeres in Äthiopien bzw. auf der arabischen Halbinsel unter halbwüstenhaften Bedingungen lebenden Mantelpavianen (Papio hamadryas). Hier gibt es keine Frauenbünde und überhaupt haben die Frauen wenig Kontakt untereinander. Eine Familie kommt allein durch die Ehebindung eines Mannes mit normalerweise verschiedenen Frauen zustande. Mit anderen Worten es besteht eine Haremsorganisation (siehe dazu als Beispiel das Soziogramm in Abb.12). Die Paarbindungen sind dauerhaft, aber nicht lebenslang, denn ein Mann muss sich, wenn er erwachsen geworden ist, erst einen Harem erwerben und kann ihn dann nur solange halten, wie er in der Vollkraft seines Lebens steht - das sind oft nur wenige Jahre. Die Frauen sind früher ehefähig und können mehrere Haremsperioden überdauern, d.h. sie binden sich über die Zeit nacheinander an verschiedene Männer. Der jeweils führende Mann zeigt gegenüber seinen Frauen ein Hüteverhalten, d.h. er passt auf sie auf, dass sie keine Seitensprünge machen und muss sie ab und zu mit Drohungen dazu bringen, mit ihm zu gehen. Andererseits aber lassen die Männer ihre Frauen auch nicht im Stich, wenn sie z.B. verletzt sind - dieser Hinweis dient “zur Ehrenrettung der Hamadryasmänner”, wie der Zürcher Ethologe Hans Kummer betont. Mit der sexuellen Treue nehmen es die beiden Geschlechter nicht gleich genau. Während der Haremsinhaber sich strikte immer nur mit seinen Ehefrauen paart und, falls diese gleichzeitig trächtig oder am Stillen sind, enthaltsam lebt, haben die Frauen während ihrer Brunstperiode durchaus keine Hemmungen, hinter dem Rücken ihres Mannes mit dem einen oder andern juvenilen Pavian rasch zu kopulieren.10
Nach Hans Kummer 1992, 126-133.
Abbildung 12: Beispielhaftes Soziogramm einer Mantelpavian-Haremsgruppe. Jeder Verbindungsstrich bedeutet, dass die verbundenen Individuen 10% der Zeit mit sozialen Kontakten verbrachten. Der Mann (oben) verkehrt häufig mit seinen vier Frauen (a = adulte, sa = subadult). Die Frauen aber geben sich kaum miteinander ab. Die Ausnahme rechts betrifft vermutlich eine Mutter und ihre subadulte Tochter. Mit Aussenstehenden verkehren die Erwachsenen in weniger als 3% der Zeit (unterbrochene Pfeile). Kleine Kreise stellen Jungtiere dar (aus Kummer 1992, 127).
Abbildung 12: Beispielhaftes Soziogramm einer Mantelpavian-Haremsgruppe. Jeder Verbindungsstrich bedeutet, dass die verbundenen Individuen 10% der Zeit mit sozialen Kontakten verbrachten. Der Mann (oben) verkehrt häufig mit seinen vier Frauen (a = adulte, sa = subadult). Die Frauen aber geben sich kaum miteinander ab. Die Ausnahme rechts betrifft vermutlich eine Mutter und ihre subadulte Tochter. Mit Aussenstehenden verkehren die Erwachsenen in weniger als 3% der Zeit (unterbrochene Pfeile). Kleine Kreise stellen Jungtiere dar (aus Kummer 1992, 127).
Diese Familienstruktur bildet die Kerneinheit der Paviangesellschaft; sie ist unter Pavianarten einzigartig. Insgesamt ist diese Gesellschaft in Form eines “Fusion-Fission-Systems” organisiert, wie Kummer dies genannt hat. Über Nacht vereinigt sich an einem Schlaffelsen eine ganze Herde von über 100 Tieren. Für die Nahrungssuche über Tag spaltet sich die Herde zunächst in Banden von etwa 50 Mitgliedern, dann teilen sich die Banden in Clans von ca. 15 Individuen auf und allenfalls gehen auch noch die Familien von durchschnittlich etwa 5 Tieren vorübergehend ihre eigenen Wege. Über die Mittagszeit treffen sich alle Mitglieder einer Bande wieder an einem Wasserloch (siehe dazu Abb.13). Am Nachmittag geschieht eine Wiederholung der Aufteilung vom Vormittag bis sich am Abend die ganze Herde wieder versammelt. Dieser Vorgang hat ökologische Gründe: Da die Nahrungsressourcen unter Bedingungen der Halbwüste insgesamt relativ spärlich und unregelmässig verteilt sind, müssten die Tiere, blieben sie alle beisammen, zu lange Wege zurücklegen und damit zuviel Energie verbrauchen.11
Nach Kummer 1992, 25-27, 187 ff.
Kummer vermutet im übrigen, dass die Evolution der Mantelpaviane sich vor rund 340 000 Jahren von derjenigen der Savannenpaviane trennte und aus Gründen der Anpassung an extremere Umweltbedingungen zu der heutigen auffälligen Sozialstruktur führte. Wahrscheinlich waren zunächst die Frauen gezwungen, kleinere Gruppen zu bilden, womit ihre weitreichende Verwandtschaftsstruktur, wie sie für die Savannenpaviane typisch ist, aufgebrochen wurde. Danach mussten die Männer eine dazu passende Strategie entwickeln. Es erwies sich als effizient im Sinne der Konfliktvermeidung, eine solche Frauengruppe als “Besitzer” zu übernehmen und sie zu verteidigen. Aber auch für die Frauen scheint diese Lösung günstig zu sein, da sie von ihrem Mann beschützt werden.12
Siehe Kummer 1992, 385 ff.
Abbildung 13: Der Fusion-Fissions-Vorgang im Tagesablauf einer Mantelpaviangesellschaft (aus Kummer 1992, 188). Zur Erklärung siehe Text.
Abbildung 13: Der Fusion-Fissions-Vorgang im Tagesablauf einer Mantelpaviangesellschaft (aus Kummer 1992, 188). Zur Erklärung siehe Text.
2.2 Orang-Utans
2.3 Gorillas
2.4 Schimpansen
2.5 Bonobos
3. Überlegungen zur sozialen Evolution der Hominiden
3.1 Von der Jagd- über die Sammel- zur Nahrungsteilungshypothese
3.2 Die Hypothese des “Sex-Vertrags“ von Helen E. Fisher
3.3 Das “Stammbaum-Modell” von Robert Foley
4. Die soziale Organisation archaischer und matrizentrischer Gesellschaften
4.1 Die archaische Gesellschaft: Patrilokale/patrilineare Horden ...
4.2 ... oder egalitäre Gemeinschaften?
4.3 Beispiel einer archaischen Gesellschaft: Die !Kung San (Buschleute)
4.3.1 Leben in lokalen Gruppen
4.3.2 Verwandtschaftssysteme
4.3.3 Heirat und Sexualität
4.4 Merkmale matrizentrischer Gesellschaften
4.4.1 Begriffliches
4.4.2 Geschichtliches
4.4.3 Zur Sozialordnung
4.5 Beispiel einer matrizentrischen Gesellschaft: Die Irokesen
4.5.1 Geschichtliches
4.5.2 Die matrilineare Grossfamilie
4.5.3 Der matrilineare Clan
5. Das Soziale in patriarchalen Gesellschaften
5.1 Der Vorgang der Patriarchalisierung
5.1.1 Hypothesen über die Ursachen
5.1.2 Der Vorgang der Patriarchalisierung in vorderasiatischen Gesellschaften
5.1.3 Beispiel einer neuzeitlichen Übergangsgesellschaft: Die Trobriand-Insulaner
5.2 Patriarchale Strukturen in der Antike: Das Beispiel Rom
5.2.1 Geschichtliches
5.2.2 Die patriarchale Familie
5.2.3 Höhepunkt der Sklaverei
Zitierte Literatur
Zusätzliche Literaturangaben (besonders zu Mittelalter und Neuzeit)