www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Soziales

4.3.2 Verwandtschaftssysteme

Wie in allen vorpolitischen Gesellschaften bildet die Verwandtschaft das zentrale organisierende Prinzip. Dabei werden verwandtschaftliche Bezeichnungen auf alle angewandt, unabhängig davon, ob eine echte konsanguinale oder affinale Verwandtschaft vorliegt oder nicht. “... kin ties extend to the very borders of the known world,” sagt Lee.46 Das Verwandtschaftsprinzip liefert die Struktur für das Alltagsleben und erlaubt der Gesellschaft, sich von Generation zu Generation zu reproduzieren. Die damit verbundenen Regeln sind aber nicht starr, sondern relativ flexibel. So meint Lee:
I found the best way to look at !Kung kinship is as a game, full of ambiguity and nuance. The game of kinship has a serious side to it, but it is also fun, providing lifelong opportunities for deep play.47
Verwandtschaftliche Beziehungen richten sich bei den !Kung nach zwei verschiedenen Systemen, einem normalen System, in dem die verwandtschaftlichen Stellungen entscheidend sind, einerseits und einem Namensystem andererseits. Im normalen System gehören alle Beziehungen einer von zwei Kategorien an, nämlich entweder a) einer “joking relationship” oder b) einer “avoidance relationship”. Das zugehörige Verhalten ist sehr unterschiedlich. In einer Beziehung des Typs a kann man sich entspannt geben, einander necken und in zutraulicher Weise unterhalten. Z.B. fällt die Beziehung zwischen Grosseltern und Kindeskindern in diese Kategorie; tatsächlich besteht zwischen diesen ein herzliches Verhältnis. Auch zwischen Eheleuten besteht eine Beziehung vom Typ a. Beim Typ b dagegen muss man sich distanziert verhalten und Respekt zeigen, was nicht heisst, dass solche Beziehungen nicht auch sehr freundlicher Art sein können; was letztlich zählt, ist, dass in der Öffentlichkeit die nötige Reserve gezeigt wird. Zu dieser Kategorie gehören die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten; dies deutet an, dass es hier um Autoritätsverhältnisse geht. Auch zwischen Ehefrau bzw. Ehemann und Schwiegereltern herrscht eine Respektsbeziehung, nicht nur das, sondern Schwiegermutter und Schwiegersohn einerseits und Schwiegervater und Schwiegertochter andererseits dürfen, theoretisch wenigstens, nicht direkt, sondern nur über die Vermittlung einer Drittperson miteinander kommunizieren. Schliesslich gilt, dass Personen, die in einer b-Beziehung zueinander stehen, einander nicht heiraten können.48
Das Namensystem entsteht dadurch, dass Personennamen nach strengen Regeln von den Vorfahren geerbt werden. So wird ein erstgeborener Sohn nach seinem Grossvater väterlicherseits genannt, eine erstgeborene Tochter nach ihrer Grossmutter väterlicherseits. Die Namen zweitgeborene Kinder richten sich nach dem Grossvater bzw. der Grossmutter mütterlicherseits. Weitere Kinder erhalten ihre Namen von Onkeln und Tanten, und schliesslich können auch weiter entfernte Verwandte an die Reihe kommen. Nie dürfen Eltern ihre Kinder nach sich selbst nennen. Insgesamt ist nur eine beschränkte Zahl von Namen im Gebrauch - im Jahre 1964 gab es im Dobe-Gebiet bei einer Gesamtpopulation von ungefähr 450 !Kung 36 verschiedene Männer- und 32 verschiedene Frauennamen, wobei die populärsten Namen bis zu 25 mal vorkamen. Bei der Absenz von Familiennamen wird damit die Unterscheidung schwierig; um sie trotzdem zu gewährleisten behelfen sich die Leute mit Übernamen. Dieses System nun wirkt sich sehr beziehungsstrukturierend aus. Ein Mann z.B. spricht alle Männer gleichen Namens, die älter sind, mit !kun!a (= Grossvater) an, alle, die jünger sind, mit !kuma (= Enkel), unabhängig von der effektiven genealogischen Stellung, womit diese also vom Besitz eines gemeinsamen Namens dominiert wird. Des weiteren ist für ihn jeder Mann, der den Namen seines Vaters trägt, ein “Vater”, jeder mit den Namen seines Sohnes ein “Sohn”, jede Frau mit dem Namen seiner Gattin eine “Ehefrau”. Das Namensystem spielt eine wichtige Rolle hinsichtlich möglicher Heiratsbeziehungen. Keine Frau darf einen Mann heiraten, der den Namen ihres Vaters oder ihres Bruders trägt, und kein Mann darf eine Frau ehelichen, die gleich heisst wie seine Mutter oder eine Schwester. Unter Umständen bleiben dann nicht viele Optionen übrig. Das System ist sehr nützlich für den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt, indem aus relativ Fremden enge Verwandte werden können, aber es zerstört natürlich die Logik des Standard-Verwandtschaftssystems. Es können Konflikte auftreten; im Fall von Unsicherheit entscheidet die ältere der beiden an einer Beziehung beteiligen Personen, wie man sich gegenseitig anreden soll.49

Anmerkungen

46
Lee 1984, 57.
47
Lee 1984, 57.
48
Vgl. Lee 1984, 64-65.
49
Nach Lee 1984, 66-69.