www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Soziales

4.1 Die archaische Gesellschaft: Patrilokale/patrilineare Horden ...

Als eigentlicher Ahne der Hordentheorie gilt der englische Soziologe und Ethnologe Alfred Reginald Radcliffe-Brown (1881-1955).1 Er stellte eine Liste von Merkmalen auf, die eine Horde charakterisieren würden, unter anderem:2
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Ein Kind gehört der Horde seines Vaters an;
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in der Horde geborene Frauen verlassen diese zur Zeit ihrer Heirat; sie heiraten einen Mann, der einer anderen Horde angehört, und sie werden Mitglied derselben;
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zu jedem Zeitpunkt besteht die Horde aus den Männern und unverheirateten Frauen, die Mitglieder von Geburtes wegen sind, und den zugeheirateten Frauen;
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die Horde ist Eigentümerin eines bestimmten abgegrenzten Territoriums und erhebt Anspruch auf die Produkte desselben.
Wird das zweite Merkmal als strikte zu befolgende Regel gesehen, ist eine solche Horde residenzmässig patrilokal und deszendenzmässig patrilinear. In neuerer Zeit (seit den 60er Jahren) ist diese Theorie kritisiert worden; es wurde Radcliffe-Brown insbesondere vorgeworfen, er hätte es versäumt, eine Unterscheidung zwischen idealen Vorstellungen und der empirisch fassbaren Wirklichkeit zu treffen. Tatsächlich hatte er sich auf die normativen Beschreibungen von schon nicht mehr traditionell lebenden Informanten abgestützt und selbst gar nie die wirkliche Zusammensetzung von lokalen Gruppen analysiert.3 Bis dahin aber war die Vorstellung von Radcliffe-Brown von vielen Autoren aufgegriffen und weiter vertreten worden, z.B. vom amerikanischen Anthropologen Elman R. Service. In seinem Buch “Primitive Social Organization”4 lieferte er eine genauere Beschreibung solcher Horden: Ihre Grösse schwankt zwischen 30 bis über 100 Mitglieder. Der sog. “dialektische Stamm”, d.h. die Sammlung von Horden, die die gleiche Sprache sprechen und die gleiche Kultur haben, was ein Einheitsgefühl ermöglicht, umfasst um die 500 Leute. Nach unten gliedert sich eine Horde in Kernfamilien, die die kohäsivsten Einheiten der archaischen Gesellschaft darstellen. In einer solchen Familie herrscht geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Gatten zum Beschützer und Ernährer der ihm anvertrauten Frau und ihrer Nachkommen macht. Auf höherer Ebene gibt es keine Arbeitsteilung, womit eine Kernfamilie mehr oder weniger autark für ihren Unterhalt sorgen kann.5
Service behauptet nicht, dass alle archaischen Horden, die in der Neuzeit noch beobachtet werden konnten, sich nach der patrilokalen Residenzregel richten, aber doch, dass dies ursprünglich allgemeine und heute die noch mindestens vorherrschende Organisationsform sei. Wie lässt sich diese Ausrichtung erklären? Service geht die Vorschläge, die in dieser Hinsicht gemacht worden sind, der Reihe nach durch:6
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Patrilokalität ist ein natürliches Resultat der männlichen Dominanz. Service meint, es stimme, dass die Männer in vielerlei Hinsicht zur Dominanz neigten, aber dieses Faktum genüge nicht für eine Erklärung. Denn neben den patrilokalen Horden gebe es auch sog. “composite bands”, gemischte Gruppen, bei denen keine strikten Regeln hinsichtlich der Residenz nach der Heirat eingehalten würden. Zudem sei auch in matrilokalen Gesellschaften festgestellt worden, dass die Männer sozial und politisch dominant seien;
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Patrilokalität entsteht deshalb, weil die Männer als Jäger für die Gruppe ökonomisch wichtiger sind. Dies kann nur bedingt richtig sein, da umgekehrt Gesellschaften, deren Subsistenz vorherrschend von den Frauen abhängt, nicht automatisch matrilokal sind. Service meint, der ökonomische Gesichtspunkt bringe uns aber auf die richtige Spur, da er unsere Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der geschlechtlichen Arbeitsteilung richten könne;
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Patrilokalität folgt aus Jagd-Tätigkeit der Männer (hier kommen wir also zum Arbeitsteilungsargument) insofern, als eine Voraussetzung für erfolgreiches Jagen eine langdauernde Vertrautheit mit einem bestimmten Territorium darstellt. Service findet dies nicht plausibel, da sich Jäger normalerweise nicht auf ein engeres Gebiet beschränken, sondern weit herumziehen. Er denkt, dass der folgende mit der Jagd verknüpfte Grund wichtiger sei: Sie ist eine kooperative Angelegenheit, während das Sammeln der Frauen üblicherweise individualisiert vor sich geht. Eine vertrauensvolle Kooperation kann sich am besten zwischen Männern entwickeln, die miteinander aufgewachsen sind;7
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Patrilokalität ist die Folge einer dauernden Konkurrenz zwischen verschiedenen Horden. Diesem Vorschlag kann Service zustimmen. Er meint, wenn Kampf angesagt sei, werde das vorher schon für die Jagd als wichtig erachtete Vertrauensverhältnis zwischen Brüdern und weiteren eng verwandten Männern noch relevanter. Zwar erschienen uns die heute noch lebenden Wildbeuter als friedfertige und freundliche Leute, aber dies heisse ja nicht unbedingt, dass dies immer so gewesen sei.
Zusammenfassend: Service sieht Patrilokalität als logische Folge des Umstandes, dass Männer in den archaischen Gesellschaften eben Jäger und Krieger sind. Sie ist nach ihm auf alle Fälle nicht ökologisch durch die Umwelt- oder die Nahrungssituation bedingt. Dies zeige sich darin, dass patrilokale Horden unter den verschiedensten Umweltverhältnissen vorkämen.8
Die Heiratsregeln richten sich nach einem Exogamiegebot oder, umgekehrt, nach einem Endogamieverbot. Das ergibt sich aus dem Prinzip der Patrilokalität, solange alle Frauen bei der Heirat die Horde wechseln. Tatsächlich ist dies der Fall, aber warum? Schon im vorigen Jahrhundert vertrat der “Vater der Ethnologie”, Lewis H. Morgan, bei der Beschreibung der Irokesen-Gesellschaft die Ansicht, dies geschehe um die negativen Folgen von Inzest zu vermeiden:
As intermarriage in the gens was prohibited, it withdrew its members from the evils of consanguine marriages, and thus tended to increase the vigor of the stock.9
Diese These hat später als sog. “Inzest-Tabu” längere Zeit eine Rolle gespielt. Nach Göttner-Abendroth ist diese Vorstellung unhaltbar, denn wenn Inzest biologisch schädliche Folgen haben sollte, wären diese nie unmittelbar zu beobachten. Zudem, so meint sie, hätten die menschlichen Urgesellschaften sich offenbar ohne Probleme über Jahrtausende in sich selbst fortgepflanzt. Im übrigen, so der englische Anthropologe Robin Fox, ist es sowieso falsch, Exogamiegebot und Inzestverbot als Kehrseiten voneinander zu sehen, denn das sind zwei verschiedene Dinge: “This is really only the difference between sex and marriage, and while every teenager knows these are different, many anthropologists get them confused.”10 Für die Exogamieregel, die uns hier interessiert, muss es also andere Gründe geben. Göttner-Abendroth hat eine einfache und naheliegende Erklärung: Eine Institutionalisierung von exogamen Heiratsregeln verhindert ein Auseinanderfallen einer Gesellschaft, wenn sie sich infolge Grössenwachstums in Sippen aufteilt, denn damit wird ein Beziehungsgeflecht geschaffen, das in Notsituationen zu gegenseitigen Hilfeleistungen motiviert.11 Service glaubt, die Exogamieregel diene zunächst dazu, die Wahrscheinlichkeit von Eifersuchtskonflikten zwischen den Männern der Gruppe zu reduzieren, darüber hinaus aber, um Allianzen und Abhängigkeiten zwischen den Gruppen zu bilden, womit er in dieser Hinsicht mit der Argumentation von Göttner-Abendroth übereinstimmt.12 Mit diesem letzteren Faktor setzt sich Service eingehender auseinander. Er geht von der Relevanz des Teilens als sozialem Faktor aus, was zunächst nach einer sinnvollen Anknüpfung an der in 3.1 diskutierten Bedeutung der Nahrungsteilung für die menschliche Enwicklung aussieht. Er meint: “Sharing creates dependencies and alliances, seizing food or mates by force or threat creates enemies.”13 Ihn interessieren aber nicht einfache, quasi instinktiv motivierte Akte des Teilens, sondern solche, die ein Konzept von Reziprozität beinhalten, also die Vorstellung einer Gegengabe zu einer anderen Zeit, die nach Service nur mit der Existenz symbolischer Kommunikationsformen bzw. einer Abstraktionsfähigkeit möglich erscheint. Service sieht darin den Beginn der eigentlichen menschlichen Kultur.14 Das Teilen wird also zum Tausch, und Service ist der Ansicht, das weitaus wichtigste Tauschgeschäft zwischen Horden hätte Frauen betroffen:
It seems logical to assume that as a basis for later developments the most significant of the early rules of reciprocity was related to the acquiescence of two social groups in the reciprocal giving of females.15
Für den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss hat die Exogamieregel nicht einen sozialen oder politischen Hintergrund, sondern sie ist ganz einfach ein wichtiger Spezialfall von allgemeinen Tauschmechanismen, die Ausdruck einer universellen mentalen Tiefenstruktur, gewissermassen einer angeborenen “Sprache” sind. Dabei geht es dann nicht nur, negativ interpretiert, um die Vermeidung von Endogamie, sondern positiv formuliert mit Hilfe von genau spezifizierten Heiratsgeboten um die Identifikation möglicher Heiratspartner. Dazu Lévi-Strauss: “... the function of a kinship system is to generate marriage possibilities or impossibilities.”16 Aber warum sind es denn die Männer, die Frauen tauschen und nicht umgekehrt? Das ist einfach so, wie Lévi-Strauss’ lapidarer Kommentar zeigt: “In human society it is the men who exchange the women, and not vice versa.”17
Wie schon angedeutet, gibt Service zu, dass es neben dem patrilokalen, exogamen und patrilinearen Hordentyp noch eine davon abweichende Organisationform gibt, die weniger häufig vorkommt. Er meint die “composite bands“, die, da keine bestimmten Residenz- und auch keine bestimten Heiratsregeln (ausser dem üblichen Verbot, nahe Blutsverwandte zu ehelichen) befolgt werden, einen gewissermassen diffusen, gemischten Charakter haben: “It is, so to speak, more of an expedient agglomeration than a structured society.”18 Service beruft sich auf Julian Steward, der diese Form unter anderem für einige kanadische Indianerstämme beschrieben hat.19 Er teilt aber nicht dessen Interpretation, die dahin geht, dass diese Art der Organisation ursprünglich und ökologisch durch eine Abhängigkeit von jahreszeitlich wandernden Wildherden erklärbar sei, sondern er glaubt, dass es sich dabei um eine aus einst patrilokaler/patrilinearer Organisation durch den Kontakt mit der westlichen Zivilisation entstandene degenerative Erscheinung handle.20 Klar ist für Service auf alle Fälle, dass es nirgends reine matrilokale Horden gibt.21

Anmerkungen

1
Zu Radcliffe-Brown siehe Elvin Hatch 1973, 215 ff.
2
Nach Radcliffe-Brown 1930-31, zitiert in Helbling 1987, 83.
3
Siehe Helbling 1987, 83-84.
4
Elman R. Service 1971 (erstmals veröffentlicht 1962).
5
Nach Service 1971, 57-58.
6
Vgl. Service 1971, 33-35.
7
Zum Vergleich: Der vorher genannte Radcliffe-Brown war der Ansicht, dass beide der hier genannten Aspekte, sowohl die territoriale Vertrautheit wie auch die Kooperation, zu den entscheidenden Determinanten von Patrilokalität gehörten (vgl. Helbling 1987, 83).
8
Siehe Service 1971, 52 bzw. 54.
9
Lewis H. Morgan 1978, 69 (erstmals 1877 publiziert).
10
Robin Fox 1973, 54.
11
Göttner-Abendroth 1988, 43. Dabei haben die Sippenstrukturen, die ihr vorschweben, einen matrilinearen Charakter. Dazu mehr in Abschnitt 4.4.
12
Siehe Service 1971, 30. Allerdings eben spricht Service von patrilokalen/patrilinearen Gruppen, Göttner-Abendroth von matrilokalen/matrialinearen.
13
Service 1971, 28.
14
Vgl. Service 1971, 28.
15
Service 1971, 29.
16
Lévi-Strauss 1966.
17
Lévi-Strauss 1967, 45.
18
Service 1971, 47.
19
Vgl. Julian Steward 1955, 145-148.
20
Siehe Service 1971, 97 f.
21
Nach Service 1971, 48.