www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

4.3.1 Wissenschaft

Wenn wir die Gültigkeit der genannten Interpretation am Fall der uns besonders interessierenden Wissenschaft zu überprüfen versuchen, finden wir Unterstützung z.B. bei Picht in seiner Arbeit mit dem Titel "Ist Humanökologie möglich?" Er schildert die Situation folgendermassen: Mit seinem Anspruch auf raum- und zeitlose Gültigkeit ist das in der Wissenschaft repräsentierte menschliche Wissen ein Wissen, das aus der irdischen Natur herausgetreten ist und gewissermassen den Status einer göttlichen Vernunft angenommen hat. Das kann nicht gut gehen. Picht sagt denn auch wörtlich:
Es besteht eine unüberbrückbare Antinomie zwischen dem Regelsystem, nach dem sich die Wissenschaft logische Konsistenz verschafft, und dem Gefüge eines offenen, sowohl nach aussen wie in sich selbst bewegten Ökosystems, ... Das Grundproblem der Humanökologie ist deshalb nicht die Ökologie des Menschen als zoon, sondern die Integration seines logos in das Gefüge seines Ökosystems.176
Mit andern Worten, die Strukturen des wissenschaftlichen Denkens stimmen nicht mit den Strukturen der realen Lebensräume, von denen wir letztlich abhängen, überein; es besteht, wie Picht sagt, eine "Diastase"177 zwischen beiden. Damit also eine Humanökologie im Sinne eines dauerhaften Lebens des Menschen auf diesem Planeten, möglich wird, müsste sich das wissenschaftliche Tun richtunggebende Nahrung aus dem weiteren Horizont der Philosophie älteren Stils verschaffen, jedenfalls einer Art von Philosophie, die ihrerseits einen Anschluss an die Religion gestattet.
Das Korrelat zur Selbstüberschätzung des Verstandes ist die von der Wissenschaftstheorie für wissenschaftliches Tun geforderte Gefühlsabstinenz. Zur Vermeidung subjektiver Elemente braucht es eine distanzierte Haltung, die in der Lage ist, dem Verstand freien Ausgang zu gewähren. "Ihr [Der Wissenschaft] erstes Gebot ist Sachlichkeit und Objektivität, Freiheit von Emotionen und Vorurteilen," sagt Walter Theimer.178 Folgerichtig meint etwa der physikalische Chemiker Peter W. Atkins in einem Buch, in dem er Entstehung und Wesen des Universums diskutiert, wir sollten angesichts der Riesenhaftigkeit des Universums ganz "cool" bleiben: "Ist die Betrachtungsweise grosszügig genug, verflüchtigt sich die Ehrfurcht, ... Ehrfurcht lähmt den Verstand."179 Sicher, Vorurteile sind zu vermeiden, aber Emotionen, z.B. Ehrfurcht? Die Betrachtung der menschlichen Bewusstseinsstruktur in "Bewusstsein" hat uns gezeigt, dass auch den aus tieferen Schichten stammenden Gefühlen ein Orientierungsvermögen zukommt. Eine Haltung wie die von Atkins würde ich schlicht als pervers bezeichnen. Insgesamt ist eine derartig betriebene Wissenschaft eine Wissenschaft ohne Liebe zum Gegenstand, den sie untersucht.

Anmerkungen

176
Picht 1979: 66. Zoon: griechisch für Lebewesen, logos: griechisch für Vernunft.
177
Bedeutet ein Auseinanderweichen, eine Kluft.
178
Walter Theimer 1985: 9.
179
Peter W. Atkins 1984: 19.