www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

1.5.2 Holistisch-organismisches und atomistisch-mechanistisches Weltbild

Die Strukturen, die dem holistischen und dem atomistischen Weltbild zugrunde liegen, sind zwei verschiedene Ausdrucksformen ein und derselben Bewusstseinsform, die Gebser mental nennt. Tatsächlich stellen die beiden Weltbilder in ihrer Gegenläufigkeit gewissermassen die zwei Seiten einer Münze dar. So ist auch die Vorstellung eines hierarchischen Aufbaus der Welt zwar beiden gemeinsam, aber mit entgegen gesetzten Vorzeichen. Im holistischen Weltbild wird der Kosmos als ein System ineinander geschachtelter Sphären, auf denen sich die Fixsterne, die Sonne, die Planeten und der Mond drehen, mit der Erde im Zentrum vorgestellt. Das ganze System wird von aussen durch ein geistiges oder göttliches Prinzip als unbewegtem Beweger angetrieben (siehe Abbildung 2).36 Im atomistischen Weltbild baut sich die Welt über eine Stufenleiter von immer grösseren Entitäten aus Atomen bzw. subatomaren Partikeln auf (vgl. Abbildung 4 in Exkurs 2, in der dann in diesem Fall aber nur die kausalen Richtungen von unten nach oben gelten). Wie in 4.4 in "Bewusstsein" erläutert, zeichnet sich die mentale Bewusstseinsstufe durch ein gerichtetes Denken aus, und Gebser weist darauf hin, dass das lateinische mens (wie übrigens auch "Mensch") auf die Wurzel ma zurückgeht, die "Denken" und "Messen" bedeutet.37 Die zwei Weltbild-Ausprägungen können wir mit Gebsers Unterscheidung zwischen einer früheren "effizienten" und einer späteren "defizienten" Form in Beziehung bringen und damit die erstere dem holistischen, die letztere dem atomistischen Weltbild zuordnen. Das hat einen positiven bzw. einen negativen Beiklang, und dies ist von Gebser auch beabsichtigt.
Abbildung 2: Das Sphärenmodell des Kosmos von Ptolemäus (150 n.Chr.) (aus Bachmann 1965: 40)
Abbildung 2: Das Sphärenmodell des Kosmos von Ptolemäus (150 n.Chr.) (aus Bachmann 1965: 40)
Das holistische Weltbild lässt sich schwerpunktmässig den politischen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters, das atomistische der ökonomischen Gesellschaft der Neuzeit zuordnen. In der politischen Zeit tauchte immer wieder, in Anlehnung an die Vorstellung des Universums insgesamt, die Vorstellung der Gesellschaft als einer Art Organismus auf, der durch die Art und Weise seines Aufbaus der kosmischen bzw. göttlichen Ordnung nahe stand. So beschrieb z.B. Johannes von Salisbury in der Mitte des 12. Jahrhunderts das Gemeinwesen als eine "Person im grossen". Diese wird von der Vernunft in Gestalt des Fürsten geleitet, der mit dem Klerus zusammen auch gleich die Seele bildet, während Bauern, Handwerker und Dienstleute den Füssen entsprechen.38 Es ist dann nicht überraschend, dass wir auch in Wirklichkeit hierarchische Klassenstrukturen vorfinden, die in eine Herrschaft von Menschen über Menschen münden.39 Der Monarch an der Spitze konnte dabei als irdischer Statthalter Gottes auftreten, was ihm eine Legitimation für sein Tun verschaffte. Übrigens bildete auch der Versuch der griechischen Demokratie keine grundlegende nicht-hierarchische Ausnahme, denn diese Demokratie betraf nur die ohnehin freien Bürger männlichen Geschlechts; Frauen und Sklaven waren davon ausgenommen.
Entsprechend setzt sich nach der im Zuge der bürgerlichen Revolutionen erfolgten Auflösung der Herrschaftsverhältnisse auch das atomistische Weltbild bis in die gesellschaftliche Realität durch. Es kommt zur Ausbildung demokratischer Staatsformen in verschiedenen Ausprägungen. Dass das Individuum nun gegenüber dem gemeinschaftlichen Ganzen immer wichtiger wird, zeigt sich im liberalen Gedankengut von individueller Freiheit und individuellen Rechten. Am extremsten äussert sich der Atomismus in der ökonomischen Auffassung des Marktgeschehens, das jeder Person erlaubt, sich nur gerade an den eigenen Interessen auszurichten, wonach dann eine "unsichtbare Hand" mirakulöserweise für ein Gesamtwohl sorgt.

Anmerkungen

36
Siehe z.B. Hartmut Bastian 1970: 24.
37
Gebser 1949: 127.
38
Nach Carolyn Merchant 1987: 83.
39
Zur feudalen Klassengesellschaft des Mittelalters siehe Georges Duby 1986.