www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

4.2 Die "seelisch-geistige Nahrungskette"

In 4.4 in "Biologische Evolution" haben wir festgestellt, dass sich das evolutionäre Geschehen in Form von hierarchischen Mustern fassen lässt. Diese kommen dadurch zustande, dass aus dem, was jeweils schon da ist, immer wieder revolutionäre Neuerungen auftauchen, sog. emergente Phänomene, die deshalb neu genannt werden können, weil sie auf einer gewissermassen höheren Ebene operieren, die in einem entscheidenden Ausmass zusätzliche Freiheitsgrade gewährleistet. Dabei kann dieses Operieren verändernd auf die Ausgangsbasis zurück wirken, ist gleichzeitig aber auch auf das Weiterbestehen der alten Phänomene als Fundament angewiesen. Neues und Altes stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis, aber letztlich besteht eine Asymmetrie, indem existentiell gesehen das Alte den Primat vor dem Neuen hat, ganz einfach deshalb weil das Neue ohne das Alte gar nicht existieren kann.
Als paradigmatischen Fall einer solchen Hierarchie haben wir im genannten Abschnitt die biophysische Nahrungskette vorgestellt. Daran lässt sich sehr schön sehen, dass die Evolution als ein Prozess verstanden werden kann, in dem wachsende Emanzipation mit parallel dazu wachsender Bindung einhergeht. Das tönt paradox, aber beachten wir, was Jonas in seinem Buch "Organismus und Freiheit" dazu sagt. Er redet von der
durch und durch dialektischen Natur organischer Freiheit, der Tatsache nämlich, dass sie im Gleichgewicht zu einer korrelativen Notwendigkeit steht, die ihr als eigener Schatten unzertrennlich anhaftet und daher auf jeder ihrer Stufen im Anstieg zu höheren Graden der Unabhängigkeit als deren verstärkter Schatten wiederkehrt. Dieser Doppelaspekt begegnet schon im Primärmodus organischer Freiheit, im Stoffwechsel als solchem, der einerseits ein Vermögen der organischen Form bezeichnet, nämlich ihren Stoff zu wechseln, aber zugleich auch die unerlässliche Notwendigkeit für sie, eben dies zu tun. ... Dadurch ist das Leben zur Welt hingewandt in einem besonderen Bezug von Angewiesenheit und Vermögen.173
Im folgenden wird uns der Versuch interessieren, das Muster der biophysischen Nahrungskette in einem übertragenen, metaphorischen Sinn auf unser Problem der Orientierung anzuwenden. Wir gehen also der Vermutung nach, dass sich dieses Problem modellhaft anhand einer "seelisch-geistigen Nahrungskette" betrachten lässt. Die Übertragung setzt die Annahme voraus, dass es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den beiden Prozessen der biologischen und kulturellen Evolution gibt, mit andern Worten, dass wir auch die letztere als eine Folge von emergenten Erscheinungen mit den genannten Beziehungsverhältnissen zwischen Neu und Alt verstehen können. Das uns interessierende Problem der Orientierung kann oder muss auf zwei miteinander wechselseitig verknüpften Ebenen angegangen werden. Die eine Ebene ist die kollektive, auf der durch das Zusammenwirken von Menschen in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft mehr oder weniger zusammenhängende Deutungssysteme entstehen. Die zweite Ebene ist die individuelle, auf der wir parallel dazu bestimmte Bewusstseinsformen vorfinden. Über die letzteren haben wir uns in "Bewusstsein" ausführlich unterhalten. Im folgenden befassen wir uns deshalb nur mit der kollektiven Ebene.
Religion existiert wohl seit der ersten Regung von Selbstbewusstsein in der Entwicklung der Menschheit. Sie entsteht aus Erlebnissen des Überwältigtseins, überwältigt vom Gefühl des Existierens der Welt und des eigenen Existierens, oder auch der Teilhabe, natürlich auch des Abhängigseins, Erlebnisse, in denen sich die Natur, die Welt oder, im Falle von theistischen Religionen, hinter oder über der Welt stehende göttliche Figuren mitteilen, vernehmen lassen. Die Philosophie entsteht in der Antike, sie differenziert sich aus der Religion aus und möchte sich auch in expliziter Abhebung von ihr verstanden wissen. Zunächst allerdings kann sie ihre Herkunft nicht verleugnen, indem sie, so wird gesagt, aus dem Staunen über die Welt und die Existenz der Menschen darin entsteht. Insofern sie versucht, Fragen metaphysischen Charakters, die von der Religion in intuitiv-gefühlshafter Art beantwortet werden, auf rationale, d.h. verstandesmässige Weise anzugehen, bekommt sie einen spekulativen Charakter, aber sie ist trotzdem noch der Meinung, aus metaphysischen Entwürfen auch die Bestimmung des Menschen in der Welt ableiten zu können. In der Moderne verabschiedet sich dann die Philosophie von solchen Spekulationen und begibt sich mit ihrer rationalen Argumentationskultur mehr in die Nähe der Wissenschaft. Insbesondere bedeutet dies dann auch, dass Anleitungen für das richtige Tun nicht mehr in einer Schau der Welt gefunden werden können, sondern nur noch im vernünftigen Austausch innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft.174 Die Wissenschaft, so wie wir sie heute verstehen, hat sich ihrerseits nach dem Mittelalter als Ausdifferenzierung aus der Philosophie entwickelt. Die hinter ihr stehende Motivation ist einerseits Neugier, andererseits aber auch die hoffnungsvolle Erwartung, die Natur zum Wohle der Menschheit beherrschen und manipulieren zu können. Das wissenschaftliche Vorgehen stützt sich dabei auf genaue Beobachtung und systematische Theoriebildung; es kann als ein Unternehmen auf rational-empirischer Grundlage beschrieben werden.
Sofern es nun angemessen ist, die Metapher der Nahrungspyramide auf die evolutionäre Folge von Religion, Philosophie und Wissenschaft anzuwenden (vgl. Abbildung 7), gilt auch hier das Prinzip des Primats des Alten vor dem Neuen und der Abhängigkeit des Neuen vom Alten, wobei allerdings das Neue auch gleichzeitig verändernd auf das Alte zurückwirkt. Mit andern Worten, wir erwarten, dass die Wissenschaft für ihr eigenes längerfristiges, kreatives und fruchtbares Gedeihen auf geistige Nahrung aus dem Bereich der Philosophie angewiesen ist, und dass weiter dasselbe für die Philosophie mit Bezug auf die Religion gilt.175 Das Problem, das wir heute haben, interpretiere ich so, dass in einem wesentlichen Sinne die notwendige Anbindung des Neuen am Alten nicht gewährleistet ist. Betrachten wir einige Aspekte dieses mangelhaften Zustandes.
Abbildung 7: Übertragung des Musters der Nahrungspyramide auf die evolutionäre Folge der Deutungssysteme
Abbildung 7: Übertragung des Musters der Nahrungspyramide auf die evolutionäre Folge der Deutungssysteme

Anmerkungen

173
Hans Jonas 1973: 131-133.
174
In der Philosophiegeschichte wird dieser Wandel als ein Paradigmenwechsel von einer Seins- über eine Bewusstseins- zu einer Sprachphilosophie diskutiert (siehe dazu Herbert Schnädelbach 1989).
175
Wir klammern dabei der Einfachheit halber die Frage aus, ob die Wissenschaft nicht auch direkt, d.h. ohne Vermittlung der Philosophie, mit der Religion in Wechselbeziehung stehen kann.