www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

4.1 Der heutige Orientierungsverlust

Von der heutigen Situation ausgehend, stellen wir fest, dass zwar die Wissenschaft als jüngstes Glied der genannten Folge das bisher ausdifferenzierteste Deutungssystem darstellt, aber trotzdem, oder gerade deswegen, für den vorherrschenden Orientierungsverlust wesentlich mitverantwortlich ist. "Die Wissenschaft weiss nicht, wo's lang geht." So äusserte sich im vergangenen Herbst die Theologin Dorothee Sölle anlässlich eines Gesprächs in der Sternstunde Philosophie am Schweizer Fernsehen. Sie gab damit ihrer Überzeugung Ausdruck, dass Wissenschaft, jedenfalls in ihrer heutigen Form, mit Weisheit wenig gemein hat, Weisheit als eine dem Leben dienliche Handlungsorientierung verstanden, und Leben in einem umfassenden Sinne gemeint, nicht nur uns Menschen, sondern auch unsere gesamte Mitwelt umfassend. Ich schliesse mich dieser Überzeugung an. Das Unbehagen an der Wissenschaft betrifft in erster Linie die Seite der Naturwissenschaften, eingeschlossen der Medizin. Diese produzieren immer mehr Verfügungswissen, das technisch umsetzbar und wirtschaftlich verwertbar ist. Es ist natürlich unbestritten, dass damit viel Gutes, mindestens die menschliche Lebensqualität betreffend, daraus hervorgegangen ist. Heute aber beginnt sich abzuzeichnen, dass diese Entwicklung ein Optimum überschritten hat und zunehmend zu einem Mitwelt- und Selbstgefährdungspotential führt; aus dem Verfügungswissen kann auch Zerstörungswissen entstehen.
Die Möglichkeit einer Selbstgefährdung der Menschheit müsste genügend Beweis dafür sein, dass wir an einem Defizit hinsichtlich einer weiter gefassten Orientierung leiden. Aber haben wir nicht immer noch die Geisteswissenschaften, insbesondere die Philosophie, die uns Orientierungswissen liefern können? Dürfen wir also erwarten, dass diese eine korrigierende Rolle spielen könnte? Kaum, denn gegenwärtig scheint die Philosophie zu einem guten Teil selbst an Orientierungsverlust zu leiden. Die Basler Philosophin Annemarie Pieper spricht in diesem Zusammenhang von "Geisteswissenschaften ohne Geist" und einem entsprechenden "Verlust der Weisheit".172 Diese Diagnose deutet darauf hin, dass Philosophie einmal Weisheitswissen hervorbrachte, dass aber diese Zeit vorbei ist. Der Grund dafür, so scheint es, ist, dass sie es nicht geschafft hat, einen genügenden Abstand zur Wissenschaft einzuhalten. Verschlimmert wird die Situation noch durch das heutige an monetären Werten ausgerichtete Nutzendenken, was bedeutet, dass eine Philosophie, die sich bloss der Orientierungsfrage widmen möchte, unter Rechtfertigungsdruck steht. Ist es denn denkbar, dass wir trotzdem eine Weisheit vermittelnde Orientierung wiederfinden können? Das ist die Frage, die wir uns hier stellen wollen.

Anmerkungen

172
Siehe Annemarie Pieper 1998.