www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

3.4 Warum der Zusatz "evolutionär"?

Wenn aber Oben und Unten sich gewissermassen zu geschlossenen Systemen verbinden, wie kann es dann überhaupt zu Veränderungen kommen? Eine Antwort geben Altman und Rogoff aus dem Bereich der Psychologie: "The transactional view shifts from analysis of the causes of change to the idea that change is inherent in the system."135 Beispielhaft illustriert mit dem Giddens'schen Modell der Strukturation heisst dies: In Strukturen handelnde Individuen reproduzieren dieselben nicht nur, sondern sie transformieren sie auch. Systeme schaffen ihre eigenen Regeln, sie sind selbstorganisierend. Sheldrake spekuliert sogar über eine mögliche "Evolution der Naturgesetze".136 Mindestens aber lässt sich mit Meyer-Abich sagen, dass "die Physik von der kruden Mechanik ... bis ... zu den Selbstorganisationstheorien sozusagen immer biologischer geworden ist."137 Das Thema der Selbstorganisation hat heute bekanntlich Konjunktur. Wir können es als Ausdruck eines neuen Weltbildes betrachten, bzw. umgekehrt als einen grundlegenden Baustein für ein solches neues Weltbild auffassen.138 Der Zusatz "evolutionär" in der Bezeichnung dieses Weltbildes deutet damit nicht nur an, dass "im Evolutionsschema die neue Rahmenerzählung"139 gesehen wird, sondern auch, dass diese Evolution als selbstorganisierend aufgefasst wird. Dazu meint Zimmerli:
Das Weltbild der Physik scheint gegenwärtig wieder abgelöst zu werden durch ein Weltbild der Metaphysik, genauer: der Naturmetaphysik. Pointiert formuliert: An die Stelle des Weltbildes der Physik tritt das Weltbild der Physis.140
Und:
Die Naturauffassung des 'Weltbildes der Physis' ist - daran kann gegenwärtig kein Zweifel bestehen - evolutionär.141
In mathematischer Formulierung erscheint das Thema in Form der nicht-linearen Systemtheorie mit Phänomenen wie dem des Chaos. Diese Theorie gründet wesentlich auf der vom physikalischen Chemiker Ilya Prigogine und MitarbeiterInnen entwickelten deterministischen Modellierung von chemischen Reaktionssystemen, die weit vom thermodynamischen Gleichgewicht entfernt sind (ein Fall von sog. dissipativen Strukturen),142 und der vom Physiker Hermann Haken geschaffenen stochastischen Beschreibung des kollektiven Verhaltens von Partikeln in Systemen mit forciertem Energieinput (wie von Photonen in einem Laser).143 Ein Moment der Erschütterung für das herkömmliche mechanistische Weltbild mit seinem Verlass auf der Kontrollier- und Vorhersagbarkeit der Dinge entsteht aus der nicht-linearen Systemtheorie dadurch, dass sie genau diese Stütze entfernt; die Zukunft erscheint als völlig offen. Selbstorganisierende Systeme haben einen Grad von Autonomie, die Fähigkeit, sich Fremdeinflüssen in einem gewissen Masse zu entziehen. Dies wird besonders auffällig im Bereich der Biologie, in dem Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela die sog. Theorie der Autopoiese, der Selbstproduktion entwickelt haben, die sie als grundlegend für ein Verständnis von Lebewesen betrachten (vgl. 2.5.2 in "Biologische Evolution").144 Varela beschreibt die autopoietische Organisation von Lebewesen wie folgt:
An autopoietic system is organized (defined as a unity) as a network of processes of production (transformation and destruction) of components that produces the components that ... through their interactions and transformations continously regenerate and realize the network of processes (relations) that produced them.145

Anmerkungen

135
Altman und Rogoff 1987: 25 .
136
Siehe Sheldrake 1990: 25 ff.
137
Meyer-Abich 1991: 209.
138
Siehe dazu die umfassende Darstellung von Erwin Jantsch 1984.
139
Hans Poser 1987: 16.
140
Zimmerli 1989b: 389. Physis ist das griechische Wort für Natur und bezeichnet ursprünglich "die Gesamtheit des Seienden und das wahre Wesen der Wirklichkeit bzw. des Seienden" (Ulfig 1993: 282).
141
Zimmerli 1989b: 392.
142
Siehe Grégoire Nicolis und Ilya Prigogine 1987.
143
Siehe Hermann Haken 1981.
144
Vgl. Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela 1987. Die Idee der autopoietischen Organisation steht im Gegensatz zur allopoietischen Organisation, d.h. der Fremdorganisation von aussen.
145
Varela 1979: 13.