www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

3.2 Leben ist mehr als Sprache

Das Stichwort "Leben" bietet einen ersten Anknüpfungspunkt für die Frage, was denn in einer zukünftigen ökologischen Gesellschaft archaische Qualität bedeuten soll. Eine solche Gesellschaft soll in ihrer geistigen Verfassung das Leben wieder in das Zentrum stellen. In einer Kritik der bisher in unserem Jahrhundert vorherrschenden Philosophie meint Skolimowski:
... wir haben erkannt, dass neu entstehende philosophische Probleme niemals linguistischer oder analytischer Natur sind. Sie sind Teil neu entstehender Lebensformen und verlangen daher nach Änderungen unserer Ontologie und Epistemologie, zusätzlich zu einem neuen begrifflichen Apparat.124
Und er fordert deshalb eine neue Philosophie, eine Öko-Philosophie, die sich am Leben orientiert, im Gegensatz zur modernen Philosophie, die sich an der Sprache orientiert.125 Dies ist nicht nur von Bedeutung für unser Verständnis von der Welt, sondern auch auf handfesterer Ebene für die menschliche Kommunikation. In ihr können sprachliche Elemente nicht-formaler, nicht-logischer und nicht-argumentativer Art eine grundlegende Rolle spielen, abgesehen von nicht-verbalen Komponenten, die ebenso wichtig sein mögen. Maurice Stein weist auf die impliziten Bedeutungen mythischer Geschichten hin. Eine solche Geschichte kann uns mehr über menschliche Grenzen und Tragödien des menschlichen Sich-Übernehmens (engl. "over-reaching") sagen als viele Bücher über Ethik, so meint er. Dies ist möglich, weil sie primär nicht unseren Kopf, sondern unser Herz anspricht: "But it speaks first to the ear of the heart and only when that ear listens can the ear of the head hear what is being said."126 Und sie spricht unser Herz an, weil sie nicht in uns geläufiger wissenschaftlicher Weise mit der genauen Bedeutung von Wörtern operiert, sondern eine poetische Sprachform verwendet, bei der Zweideutigkeiten nicht nur zugelassen sind, sondern vielleicht sogar eine notwendige Funktion haben. Stein zitiert in diesem Zusammenhang E.R. Leach:
Whereas we are trained to think scientifically, many primitive peoples are trained to think poetically. Because we are literate, we tend to credit words with exact meanings - dictionary meanings. Our whole education is designed to make language a precise scientific instrument. The ordinary speech of an educated man is expected to conform to the canons of prose rather than of poetry; ambiguity of statement is deplored. But in primitive society the reverse may be the case; a faculty for making and understanding ambiguous statements may even be cultivated.127
Dies stimmt überein mit der Auffassung von Gebser, wonach sich mythische Aussageformen durch eine ambivalente Polarität, eine Zweipoligkeit auszeichnen, während sich im mentalen Bewusstsein daraus eine Gegensätzlichkeit entwickelt (vgl. 2.1 und 4.4 in "Bewusstsein").128 Und Mary Catherine Bateson weist darauf hin, dass wir üblicherweise einen unvollständigen Zugang zur Komplexität haben, die wir selbst darstellen, und dass wir diesen Zugang mittels Poesie verbessern können:
One reason why poetry is important for finding out about the world is because in poetry a set of relationships get mapped onto a level of diversity in us that we don't ordinarily have access to.129

Anmerkungen

124
Skolimowski 1988: 34.
125
Vgl. Skolimowski 1988: 37 ff.
126
Maurice Stein 1964: 206.
127
Stein 1964: 204.
128
Siehe Gebser 1949: 108 ff.
129
Bateson 1991: 288.