www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

2.2 Geist versus Materie

Betrachten wir zuerst das Begriffspaar Geist und Materie. Das holistische Weltbild, das ja die Dinge von oben nach unten erklärt, geht vom Primat gewisser geistiger Prinzipien aus; eine Philosophie, die auf solcher Grundlage aufbaut, wird einer idealistischen Haltung zuneigen. Man kann sich auch vorstellen, dass die Welt insgesamt als eine Art von intelligentem Organismus aufgefasst wird. Paradigmatischen Charakter haben die Vorstellungen von Platon (427-347 v.u.Z.) für die Zeit des klassischen Griechenlands und diejenigen von Thomas von Aquin (1225?-1274) für das scholastische Denken des späteren Mittelalters. Für Platon ist im Kosmos ein Reich ewiger und perfekter Ideen vorgegeben, die mit Hilfe einer göttlichen Figur oder einer Weltseele im Bereich der vergänglichen Materie ihre unvollkommene Abbildung finden.49 Für Thomas gibt es auch eine vernünftige, gesetzmässige Weltordnung. Ihr übergeordnet ist aber ein Reich der übernatürlichen Wahrheit, in dem die Geheimnisse des christlichen Glaubens angesiedelt sind.50 In der griechischen Antike hat das holistische Denken zwar einen rational-spekulativen Charakter, steht aber der Religion noch nahe, obschon es sich gerade von deren Bevormundung befreien will. Im Übrigen ist daran zu denken, dass die Philosophie jener Zeit eine Beschäftigung elitärer Art darstellte und das Religiöse sonst im Alltagsleben noch sehr präsent war. Dies kommt selbst in den Schriften Platons noch zum Ausdruck. Z.B. beginnt sein Werk "Der Staat" mit dem Satz: "Ich [erzählt Sokrates] ging gestern mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, zum Peiraieus hinab, um zu der Göttin zu beten, ..."51 In der Nachantike bis zum Mittelalter kommt es dann zum Versuch der Synthese einer rationalen Philosophie mit dem christlichen Glauben.
Schon vor der Zeit von Thomas machen sich aber die ersten Anzeichen einer Aufweichung der Dominanz des holistischen Weltbildes bemerkbar. Im 11. Jahrhundert findet der sog. Universalienstreit statt, der zwischen zwei gegensätzlichen Positionen ausgetragen wird:52
1.
Die Position des sog. "Realismus" (der dabei als Idealismus verstanden wird), die behauptet, dem Allgemeinen komme vor dem Besonderen eine reale Existenz zu, wie dies etwa für die platonische Auffassung von präexistenten Ideen zutrifft. Universalia ante res lautete die lateinische Bezeichnung, das Universelle kommt vor den Dingen. Z.B. war der Benediktinerabt und spätere Erzbischof von Canterbury Anselm von Canterbury (1033-1109) ein Realist. Er vertrat die Meinung, der Glaube müsse jeglicher Erkenntnis vorausgehen: "Ich glaube, damit ich verstehe". Ist allerdings der Glaube einmal gegeben, wäre es dann eine sträfliche Nachlässigkeit, nicht zusätzlich auch die Vernunft zu gebrauchen.
2.
Die Position des sog. "Nominalismus", die die Auffassung vertritt, das Universelle entstehe einfach durch eine Verallgemeinerung von Beobachtungen in Form blosser Namen in unserem Kopf. Universalia post res, das Allgemeine kommt nach den Dingen, lautete die Aussage. Ein Vertreter dieser Richtung war z.B. Johannes Roscellinus von Compiègne (ca. 1050-1120). Nach ihm besteht die Wirklichkeit aus lauter Einzeldingen, während jegliche Allgemeinbegriffe menschliche Erfindungen sind. Also gibt es beispielsweise keine "Weisse" als etwas Allgemeines, sondern nur konkrete weisse Gegenstände, und auch keine "Menschheit", sondern nur einzelne Menschen. Roscellinus wandte dann seine Grundsätze auch auf die Vorstellung der göttlichen Dreieinigkeit an, indem er darin drei separate Gottheiten sah, eine Aussage, die er aber auf Geheiss der Kirche widerrufen musste.
Schliesslich setzt sich der Nominalismus durch und wird dann im allmählich entstehenden neuen atomistisch-mechanistischen Weltbild zur Selbstverständlichkeit. Hier wird nun das spekulativ-rationale durch ein empirisch-rationales Denken ersetzt. Ziel ist seine Befreiung von allen metaphysischen Vorgaben, was eben durch die Erklärung der Welt von unten nach oben, also aus den materiellen Grundlagen, möglich werden soll. In einer Übergangsphase wird zwar, z.B. bei René Descartes (1596-1650) und Isaac Newton (1643-1727), noch ein Gott als erster Beweger postuliert. Dabei entsteht ein Streit um die Frage, ob damit eine einmalige, zu einer perfekten Schöpfung führende Aktivität zu verstehen sei, oder aber ob damit auch ein späteres pflegerisches Eingreifen verbunden sei. Newton hatte nämlich beobachtet, dass die Bahnen gewisser Planeten gegenüber seiner Modellvorstellung allmähliche Abweichungen aufwiesen (die, wie man später erkannte, mit Störungen durch die gegenseitigen Anziehungskräfte zu tun haben). Er nahm deshalb an, Gott müsste ab und zu eingreifen und die Dinge wieder in Ordnung bringen, Anlass für den österreichischen Physiker Roman U. Sexl, glossierend von "Gott als kosmischem Gastarbeiter" zu reden.53 In der Folge aber setzte sich die Vorstellung der Welt als einer Maschine durch, die, einmal in Bewegung gesetzt, gesetzmässig abläuft, und wenn man sich schliesslich in der Folge nur noch für die Gesetze interessiert, wird der göttliche Ingenieur endgültig überflüssig. Mit der Suche nach Naturgesetzen ist übrigens, wie Rupert Sheldrake betont, die Metaphysik keineswegs eliminiert. Denn diese Gesetze entsprechen einem genau so immateriellen und genau so transzendenten Prinzip wie etwa die platonischen Urbilder.54
Mit dieser Entwicklung setzt die Ablösung der Wissenschaft von der Philosophie ein, so wie sich vorher diese von der Religion abzusetzen versuchte. Newtons Mechanik ist ein expliziter Versuch in dieser Richtung. Er postuliert einen absoluten Raum, in dem sich Partikel in Bewegung befinden. Diese verfügen über essentielle Eigenschaften, d.h. über Eigenschaften, die im Gegensatz zu zufälligen oder veränderlichen Merkmalen immer anwesend sind (wie z.B. Ort, Grösse, Bewegung) und eben, unabhängig von ihrer Existenz im Weltsystem, das Wesen der Partikel ausmachen. Umgekehrt wird aber das Ganze, das Weltsystem durch diese Eigenschaften beeinflusst. Z.B. ergibt sich daraus die gegenseitige Anziehung der Himmelskörper nach dem Gesetz der Schwerkraft. Wir haben also hier das grundlegende Beispiel für die im atomistischen Weltbild typische Auffassung, dass die Eigenschaften von Entitäten, die durch die Interaktion zwischen oder den Zusammenschluss von Teilen entstehen, die Qualität des Ganzen in epiphänomenaler Weise bestimmen. Allerdings blieben die Newtonschen Auffassungen nicht unwidersprochen. So vertrat Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) eine gegenteilige, also holistische Auffassung, indem er einen Vorrang des Weltsystems postulierte, von dem aus dann auf die Beschaffenheit der Systemelemente geschlossen werden konnte.55
Trotzdem aber setzt sich die Vorstellung schliesslich durch, das Ganze sei nicht mehr als die Summe der Teile. Damit aber kann, so glaubt man, die Welt durchgehend auf materialistischer Grundlage erklärt werden, und dieser Glaube hat ja auch eine Zeitlang zu spektakulären Erfolgen geführt. Dazu Whitehead:
Having regard to this triumph, can we wonder that scientists placed their ultimate principles upon a materialistic basis, and thereafter ceased to worry about philosophy?56
Das geht so weit, dass Descartes und andere eine Theorie der primären und der sekundären Eigenschaften ausarbeiten: Die primären Eigenschaften der Dinge sind die einzig wirklichen; sie sind identisch mit den schon genannten essentiellen Eigenschaften. Sekundäre Eigenschaften sind Wahrnehmungen unserer Sinnesorgane wie z.B. Farbe und Geruch, und diese gehören nicht wirklich zu den betreffenden Dingen, sondern sind gewissermassen Einbildungen unseres Geistes.57 Whitehead wiederum kritisiert diese Annahme als ein Beispiel einer "fallacy of misplaced concreteness": Das, was als "wirklich" betrachtet wird, ist in Tat und Wahrheit nicht wirklich, sondern hoch abstrakt.58 Gibt die Wissenschaft aber den atomistischen Annahmen den Vorzug, dann ist es nur folgerichtig, dass sie reduktionistisch vorgehen muss. Disziplinär gesprochen kann, so lautet dann die Behauptung, der Erklärungsgrad gesteigert werden, wenn die Soziologie auf die Psychologie, diese auf die Biologie, diese wiederum auf die Chemie, und diese letztlich auf die Physik zurückgeführt wird.59 Interessanterweise vertritt gerade der sonst nicht als "Vereinfacher" bekannte Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker eine reduktionistische Position, indem er die "Einheit der Natur" in der "Einheit der Physik" postuliert. Aber er wehrt sich gegen die Gleichsetzung seines physikalistischen Ansatzes mit einem materialistischen Monismus und meint, man könne Physik so verstehen, dass
die Substanz, das Eigentliche des Wirklichen, das uns begegnet, Geist ist. Denn es ist dann möglich, so zu formulieren, dass die Materie, welche wir nur noch als dasjenige definieren können, was den Gesetzen der Physik genügt, vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung fügt, insofern er also auf empirisch entscheidbare Alternativen hin befragt werden kann und darauf antwortet.60

Anmerkungen

49
Vgl. z.B. Störig 1985: 161-164.
50
Vgl. z.B. Störig 1985: 253-255.
51
Platon 1973: Bd.1, 67.
52
Siehe Störig 1985: 237 ff.
53
Roman U. Sexl 1984: 48 ff.
54
Siehe Rupert Sheldrake 1990: 146 f.
55
Eine ausführliche Diskussion der Newton-Leibniz-Kontroverse findet sich bei Gideon Freudenthal 1982, der in seiner Arbeit auch auf hintergründige Zusammenhänge mit den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen hinweist.
56
Whitehead 1949: 49.
57
Vgl. Whitehead 1949: 55 ff.
58
Whitehead 1949: 52.
59
Umgekehrt wird in den holistischen Gegenströmungen dieses Jahrhunderts, z.B. beim südafrikanischen Staatsmann Jan Christiaan Smuts (1870-1950), die Physik als Spezialfall der "oberen" Disziplinen wie Psychologie und Biologie betrachtet (vgl. dazu Meyer-Abich 1989).
60
Carl Friedrich von Weizsäcker 1972: 289.