www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

3.6 Versöhnung zwischen Werten und Fakten

Ähnlich wie zu einer Verbindung von Wirk- und Zweckursachen müsste es in einem neuen Weltbild auch zu einer Versöhnung von Fakten und Werten kommen. Wer noch im neuzeitlichen Weltbild lebt, muss bekanntlicherweise der Maxime gehorchen, dass die beiden nie miteinander vermischt werden dürfen. Tatsachen werden nach diesem Verständnis festgestellt, Werte aber zugeschrieben. Jedoch sagt der Ökophilosoph Arne Naess:
The distinction between "facts" and "values" only emerges from gestalts through the activity of abstract thinking. The distinction is useful, but not when the intention is to describe the immediate world in which we live, the world of gestalts, the living reality, the only reality known to us.150
Auch von ihm bekommen wir also einen Hinweis darauf, dass die Philosophie der Zukunft nicht eine der Sprache sein kann, sondern eine umfassendere des Lebens sein muss. Die Rede von "Gestalt" erinnert an den Gebrauch des Begriffs in der Gestaltpsychologie, in der es um die "gegliederte Ganzheit von Phänomenen"151 und deren Wahrnehmung geht.
In diesem Zusammenhang ist die Vorstellung des impliziten Wissensprozesses von Michael Polanyi von fundamentaler Bedeutung (vgl. 2.4 in "Bewusstsein"). Sie erlaubt es uns, das was wir als Problem einer mangelnden Innenorientierung an tieferen Bewusstseinsschichten sehen können, nun in Form der schon bekannten Struktur mit den Teilen und dem Ganzen darzustellen (siehe Abbildung 6), denn
es scheint ... sinnvoll, anzunehmen, dass ... in allen ... Fällen impliziten Wissens eine Entsprechung besteht zwischen der Struktur des Verstehens und der Struktur des Verstandenen, der komplexen Entität.152
Dazu passt eine Aussage der beiden Batesons: "Of all available metaphors, the most central and salient, available to all human beings, is the self."153 Es liegt also eine strukturelle Übereinstimmung zwischen Innen und Aussen vor. Wenn die fokale Aufmerksamkeit von der Ebene der Einzelheiten abgezogen wird - diese werden dann nur noch subsidiär wahrgenommen - entsteht ein Ganzes mit einer Bedeutung. Polanyi selbst beschreibt dies so:
When we attend from a set of particulars to the whole which they form, we establish a logical relation between the particulars and the whole, similar to that which exists between our body and the things outside it.154
und:
In order to attend from X [einer Anzahl von Einzelheiten] to its meaning, you must cease to look at X, and the moment you look at X you cease to see its meaning.155
Abbildung 6: Versuch einer graphischen Darstellung des Wissensprozesses, wie ihn Michael Polanyi sieht: Dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit von vordergründigen Einzelheiten abziehen, entsteht aus ihnen ein Ganzes mit einer Bedeutung
Abbildung 6: Versuch einer graphischen Darstellung des Wissensprozesses, wie ihn Michael Polanyi sieht: Dadurch, dass wir unsere Aufmerksamkeit von vordergründigen Einzelheiten abziehen, entsteht aus ihnen ein Ganzes mit einer Bedeutung
Solche Akte der Integration nennt Polanyi "tacit knowing". Sie haben einen "stillschweigenden" Charakter, weil nicht gesagt werden kann, wie sich aus den Elementen ein Ganzes ergibt. Alles Wissen hat eine derartige Wurzel: "... all knowledge is either tacit or rooted in tacit knowledge. A wholly explicit knowledge is unthinkable."156 Damit wird die enorme Beschränkung eines Weltbildes, das am liebsten nach dem Vorbild der neuzeitlichen Wissenschaft nur das gelten lassen möchte, das formal-mathematisch repräsentiert werden kann, offensichtlich. In einem neuen Weltbild verlangen das Unaussprechbare, das Mythische, das Poetische, das Metaphorische, und das "Heilige", wie es die Batesons nennen,157 ihren Platz. Auch in dieser Hinsicht bekommt ein neues Weltbild eine archaische Qualität.
Einen archaischen Beiklang hat ferner auch die von Helga Nowotny erörterte und als notwendig erachtete Wiederberücksichtigung des Zeitkreises, d.h. einer zirkulären Zeitauffassung.158 Mit Bezug auf Stephen J. Gould159 weist sie darauf hin, dass Zeitpfeil (als Zeichen für ein lineares Zeitverständnis) und Zeitkreis als Urmetapher schon in der Bibel vorkommen, dass aber "der Zeitpfeil ... schliesslich zur Einbahnschiene der westlichen Kultur" wurde, "auf der ab dem 18. Jahrhundert der Fortschrittsgedanke aufbaute."160 Heute geht es darum, die Dichotomie von Pfeil und Kreis zu überwinden. "Erst beide zusammen entsprechen den Anforderungen unserer Zeiterfahrung und Zeitvorstellung, nämlich der Einmaligkeit der Zeit auf der einen Seite ... und der Gesetzmässigkeit der Zeit, der Wiederkehr, auf der andern Seite."161

Anmerkungen

150
Naess 1993: 60.
151
Ulfig 1993: 58. Zur Gestaltpsychologie siehe z.B. Wilhelm Hehlmann 1967: 299 ff.
152
Michael Polanyi 1985: 37.
153
Bateson und Bateson 1987: 194.
154
Polanyi 1974: 148.
155
Polanyi 1974: 146.
156
Polanyi 1974: 142.
157
Bateson und Bateson 1987.
158
Vgl. Helga Nowotny 1992.
159
Stephen J. Gould 1990.
160
Nowotny 1992: 29.
161
Nowotny 1992: 29.