www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

3.3 Die Dualität des relationalen Weltbildes

In 1.4 haben wir davon gesprochen, dass ein neues, relational-evolutionäres Weltbild auf einer dualen Hierarchie aufbaut. Dies bedeutet, dass weder das Ganze noch die Teile alleiniger Ausgangspunkt der Betrachtung sind, sondern dass die Beeinflussungen als in beiden Richtungen laufend aufgefasst werden. In einem gewissen Sinn wird damit die Richtungslosigkeit der archaischen Welt wieder hergestellt, allerdings ohne die Differenzierung zwischen den verschiedenen Ebenen aufzugeben. Ich habe in diesem Zusammenhang etwa von "zirkulärer Kausalität" gesprochen,130 aber diese Vorstellung ist eigentlich eher irreführend, weil es doch nicht darum geht, dass abwechslungsweise die Teile das Ganze und dann das Ganze die Teile beeinflussen (dies würde einem Dualismus oder einer Dialektik entsprechen), sondern dass beide kausalen Richtungen simultan aktiv sind. Arthur Koestler schildert die Situation so (vgl. dazu auch Abbildung 5):
The members of a hierarchy, like the Roman god Janus, all have two faces looking in opposite directions: the face turned towards the subordinate levels is that of a self-contained whole; the face turned upward towards the apex, that of a dependent part.131
Abbildung 5: Die "Holarchie" der Natur, das hierarchische System von "Holons" als Janusköpfen, die gleichzeitig nach oben und nach unten schauen. Ein Modell von Arthur Koestler (aus Hampden-Turner 1983: 163)
Abbildung 5: Die "Holarchie" der Natur, das hierarchische System von "Holons" als Janusköpfen, die gleichzeitig nach oben und nach unten schauen. Ein Modell von Arthur Koestler (aus Hampden-Turner 1983: 163)
Um diese Doppelnatur jeder Entität zu betonen, hat Koestler die Bezeichnung "holon" vorgeschlagen, abgeleitet vom griechischen holos = das Ganze, und mit der Endung on, die - wie in Proton oder Neutron - an einen Partikel erinnern soll.132 Allerdings ist vermutlich auch diese Metapher nicht unbedingt adäquat. Es geht bei der dualen Betrachtungsweise weniger um die Entitäten, als vielmehr um die Relationen zwischen ihnen; wenn von einem Ausgangspunkt die Rede sein soll, dann müssen diese ihn darstellen. Entitäten bringen zwar von Haus aus gewisse Eigenschaften mit, werden aber zu dem, was sie schlussendlich sind, erst durch ein Zueinander-in-Beziehung-Treten. Gleichzeitig ergibt sich daraus etwas Übergeordnetes, das mehr als die Summe der Teile ist, ein Ganzes mit neuartigen (gegenüber den Teilen) emergenten Eigenschaften, die über ein rückwirkendes kausales Vermögen verfügen. Die relationale Grundlage des neuen Weltbildes äussert sich im Bereich der Wissenschaft in entsprechend orientierten Theorien. Ein gutes Beispiel aus der Soziologie ist die Theorie der Strukturation der Gesellschaft von Anthony Giddens (vgl. 2.2 in "Kulturelle Evolution").133 Ein Mensch interagiert mit andern Menschen oder mit Elementen der biophysischen Umwelt so, dass seine Handlungen gleichzeitig übergeordnete Strukturen (Regeln) reproduzieren. Im Bereich der Psychologie werden entsprechende Auffassungen als "transaktional" bezeichnet. Irwin Altman und Barbara Rogoff beschreiben die Situation so:
There are no separate actors in an event; instead there are acting relationships, such that the actions of one person can only be described and understood in relation to the actions of other persons, and in relation to the situation and temporal circumstances in which the actors are involved. ... a transactional approach assumes that the aspects of a system, that is, person and context, coexist and jointly define one another and contribute to the meaning and nature of a holistic event.134

Anmerkungen

130
Z.B. in Dieter Steiner 1993: 54.
131
Arthur Koestler 1981: 48.
132
Vgl. Koestler 1981: 48.
133
Siehe Anthony Giddens 1988.
134
Irwin Altman und Barbara Rogoff 1987: 24. Siehe zu dieser Sichtweise auch die Besprechung von Peter Weichhart 1993.