www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

3. Überwindung der Gegensätze: Archaisches in Vergangenheit und Zukunft97

Wenn sich zwei gegenläufige Vorstellungen gegenüber stehen, so wie dies bei den zwei eben besprochenen Weltbildern der Fall ist, lässt sich vermuten, dass wir es beiderseits mit einseitigen Sichtweisen zu tun haben, und es stellt sich die Frage, ob eine Integration denkbar ist. Tatsächlich ist dies hier der Fall: Die konstitutive und die regulative Sichtweise lassen sich so verbinden, dass die Linearität der Hierarchie in der einen oder andern Richtung zugunsten einer Dualität überwunden wird. Ein neues Weltbild, das diese Überwindung leistet, scheint im Entstehen begriffen zu sein; Anzeichen dafür gibt es schon länger. So hat Jean Gebser schon 1943 in seinem Buch "Abendländische Wandlung",98 also 40 Jahre vor Fritjof Capras "Wendezeit",99 einen Wandel angekündigt. Er sieht in den Philosophien von Spinoza (1632-1677) und Leibniz (1646-1716) bereits Vorläufer und sichtet im Übrigen ernsthafte Spuren der Veränderung ab dem Jahr 1900, so etwa in der Relativitäts- und auch der Quantentheorie. Zur beispielhaften Illustration des Dualitätsprinzips im neuen Weltbild wird im Exkurs 3 eine relationale Sicht auf das menschliche Bewusstsein mit einer holistischen und einer atomistischen Erklärung verglichen.
So wie ich es sehe, hat das neue Weltbild das Potential, uns Anleitung zur Rückgewinnung eines gewissen Masses an archaischer Lebensqualität zu geben. Auch Taylor verfolgt einen ähnlichen Gedanken mit seiner Idee der "paraprimitiven Gesellschaft", womit er meint, "dass wir ... versuchen sollten, innerhalb unserer technologischen Gesellschaft den strukturierten Charakter der präindustriellen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad wiederherzustellen."100 Dies ist deshalb von Belang, weil archaische Weltbilder und damit verbundene Lebensweisen offenbar in einem umfassenden Sinne ökologisch verträglich waren, und weil wir heute ja vor die Frage gestellt sind, wie wir zum Ende unseres gegenwärtigen ökologischen Vernichtungsfeldzugs kommen. Mit der angesprochenen Rückgewinnung ist aber natürlich nicht eine Rückkehr zu einer wirklich archaischen Lebensweise gemeint. Das wäre schon deshalb unmöglich, weil wir unseren damaligen Bewusstseinszustand schon längst hinter uns gelassen haben. Was damit gemeint ist, versuche ich im Folgenden zu erläutern. Zunächst aber beginne ich mit einer Schilderung des archaischen Weltbildes.
Exkurs 3: Das menschliche Bewusstsein, holistisch, atomistisch und relational erklärt
1. Holistisch: Das Bewusstsein als Gabe der Ideenwelt
Nach der Lehre von Platon ist der menschliche Leib nur Erscheinung, erst mit der Seele ist der eigentliche Mensch gegeben. Sie ist Mittlerin zwischen der Ideenwelt und der sichtbaren Welt. Genauer: Die Seele ist dreigeteilt in einen denkenden, einen wollenden und einen begehrenden Teil, wobei der erste Teil Anteil an den Ideen hat, somit auch unsterblich ist und sich beim Eintritt in den Leib mit den übrigen Teilen verbindet. Im Erkennen findet der Mensch mit Hilfe des Denkens das, was er eigentlich schon weiss, jetzt einfach gewissermassen wieder erinnert.101
2. Atomistisch: Das Bewusstsein als neurales Epiphänomen
Diese Auffassung besagt, dass alle Phänomene, die wir als psychisch bezeichnen, insbesondere auch dasjenige des Bewusstseins, sich als Epiphänomene aus den neuralen Aktivitäten des Gehirns ergeben. Dazu passt folgende, von Stephan L. Chorover rapportierte Geschichte aus den USA: 1967 gab es in den Slums von Detroit Krawalle und ganze Viertel brannten ab. Einige Zeit später wurde in einer medizinischen Fachzeitschrift allen Ernstes die Meinung vertreten, das Verhalten der an diesen Krawallen beteiligten Personen sei vermutlich auf eine bisher nicht bekannte Gehirnkrankheit zurückzuführen, und es sei wahrscheinlich, dass diese Personen durch entsprechende Chirurgie geheilt werden könnten.102
3. Relational: Bewusstsein als emergentes Phänomen
Der Neurobiologe Roger Sperry ist der Meinung, das Bewusstsein sei eine an einem bestimmten Punkt der Evolution auftretende neue Erscheinung, die ihre eigene Kausalität entwickelt. Dies heisst, dass Bewusstseinsvorgänge in keiner Weise einfach auf die Aktivitäten der Neuronen im Gehirn zurückführbar sind, sondern im Gegenteil diese beeinflussen können. Andererseits bedeutet es aber auch, dass Bewusstsein nur auf dem materiellen Substrat eines Gehirns entstehen kann.103 Eine weitere wesentliche Bedingung der Entstehung von Bewusstsein beim Menschen, von Sperry nicht erwähnt, dürfte sein Leben im sozialen Kontakt mit Mitmenschen sein.

Anmerkungen

97
Dieses Kapitel ist mit Änderungen übernommen aus Steiner 1996: 38-49.
98
Siehe Gebser 1956.
99
Fritjof Capra 1983.
100
Taylor 1974: 234.
101
Vgl. z.B. Störig 1985: 164 f. und Johannes Hirschberger 1975: 30 f.
102
Nach Stephan L. Chorover 1987.
103
Siehe Roger Sperry 1985.