www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Weltbilder

2.4 Werte versus Fakten

Im Zuge der gleichen Entwicklung trennten sich auch Werte und Fakten voneinander. Im alten Weltbild gehörten sie noch zusammen. Nicht nur liessen sich Tatsachen gemäss erkannter Werte einordnen, sondern die letzteren hatten auch eine normativ-handlungsanweisende Bedeutung. Im klassischen Griechenland bedeutete theoria Anschauung, ein Sich-Versenken in die Ästhetik des Universums, "eine denkende Betrachtung des ewig Seienden",67 was Einsichten im Hinblick auf praktisches Handeln vermittelte. Im neuen Weltbild dagegen behauptet die Wissenschaft von sich selbst, dass sie wertfrei sei oder sein müsse. Werte kann man allenfalls zum Thema einer philosophischen Diskussion machen, oder aber es entsteht eine umgekehrte Beziehung in dem Sinne, dass sie sich aus Fakten ableiten lassen. So etwa argumentiert die neoklassische Ökonomie, die sich als eine Art Naturwissenschaft vorkommt und die moralische Dimension nicht nur ignoriert, sondern ihre Berücksichtigung aktiv ablehnt.68 An der Schwelle zu dieser Entwicklung stehen die Überlegungen des schottischen Volkswirtschaftlers und Philosophen Adam Smith (1723-1790) in seinem Werk "Der Wohlstand der Nationen" (1776).69 Interessant ist dabei, dass Smith ursprünglich Moralphilosoph war, und in einem früheren Buch mit dem Titel "Theorie der sittlichen Gefühle" (1759) durchaus noch eine holistische Ansicht vertrat, der zufolge wir von Natur aus ein Gefühl für Gerechtigkeit hätten. Die Betonung auf dem Wirken der Natur ist aber gleichzeitig die Wurzel einer Entwicklung, die später jegliche Art von Handeln als naturgemäss gerechtfertigt erscheinen lässt.70 Heute ist für die Ökonomie "'Wert' zum einen eine vom Subjekt einem Objekt zugemessene Eigenschaft in quantifizierbarer Grösse der Tauscheinheit, zum anderen der 'objektive' Gehalt einer Bezugsgrösse, wie Arbeit oder Gold, in einem Gegenstand."71
Das Fazit: Die frühere "Sinn- und Ordnungsnatur" der Welt verwandelt sich mit der Ablösung des holistisch-organismischen durch das atomistisch-mechanistische Weltbild völlig in eine "Tatsachennatur".72 An die Stelle eines lebendigen Organismus tritt eine "Produktions- und Reproduktionsmaschine im Dienste des Menschen", Anlass für Carolyn Merchant, den "Tod der Natur" zu diagnostizieren.73 Und inmitten einer derartigen Welt, so meint Jacques Monod (den wir schon von 1.1 in "Menschwerdung" her kennen), weiss der Mensch endlich, "dass er in der teilnahmslosen Unermesslichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat."74 Kein Wunder, dass der englische Philosoph Alisdair MacIntyre unter diesen Umständen die Diagnose stellen kann, unsere Sprache der Moralität sei in einem Zustand gravierender Unordnung.75 Walther Ch. Zimmerli seinerseits formuliert es so: "In dem Masse, in dem unser wissenschaftlich-technisches Wissen über das, was ist, zunimmt, scheint unser moralisches Wissen über das, was sein soll, abzunehmen."76

Anmerkungen

67
Vgl. Gerhard Huber 1985: 23.
68
Vgl. Amitai Etzioni 1988: 12.
69
Siehe dazu Hans-Peter Studer 1987: 79 ff.
70
Vgl. Meyer-Abich 1991: 217 ff.
71
Joachim Schütz 1990: 25.
72
So äusserte sich die österreichische Philosophin Cornelia Klinger in ihrer Vorlesung "Frauenspezifische Wissenschafts- und Rationalitätsevaluation" an der ETH Zürich im Wintersemester 1994/95.
73
Siehe Carolyn Merchant 1987.
74
Jacques Monod 1979: 157.
75
Vgl. MacIntyre 1988.
76
Walther Ch. Zimmerli 1989a: 9.