www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

6.1.5 Die "Selbstrealisierung" bei Arne Naess

Arne Naess ist ein norwegischer Ökophilosoph und als Vater der sog. Tiefenökologie-Bewegung bekannt. In einem Artikel in der Zeitschrift "Inquiry" beschrieb er die Orientierung dieser Bewegung wie folgt:
Rejection of the man-in-environment image in favour of the relational, total-field image. Organisms as knots in the field of intrinsic relations. An intrinsic relation between two things A and B is such that the relation belongs to the definitions or basic constitutions of A and B, so that without the relation, A and B are no longer the same things.196
Das Gesagte gilt natürlich auch für uns selbst, wenn ich also z.B. A bin und B etwas in der Umgebung ist, oder wenn A und B sich auf verschiedene Elemente unseres Bewusstseins beziehen. In diesem Sinne kann das, was wir über die Welt erfahren nie nur subjektiv aber auch nicht objektiv sein, sondern es entsteht in wechselseitiger Beziehung. "We arrive, not at the things themselves, but at networks or fields of relations in which things participate and from which they cannot be isolated."197 Es ist aber möglich, in solchen Netzwerken Konfigurationen mit einem stärkeren Zusammenhang zu erkennen, "Gestalten", wie sie Naess in Anlehnung an die Gestaltpsychologie nennt. Solche Gestalten haben einen intrinsischen Wert, d.h. es kommt ihnen ein Wert auch jenseits aller Überlegungen zu Bedeutung und Nützlichkeit für den Menschen zu, einfach deshalb, weil sie da sind. Eine unvoreingenommene Wahrnehmung, bei der ein Zusammenwirken der verschiedenen Bewusstseinsebenen stattfindet, ist eine Voraussetzung für das Erkennen von Gestalten: "... reality as spontaneously experienced binds the emotional and the rational into indivisible wholes, the gestalts."198 Das bedeutet aber auch, dass in der spontanen Erfahrung Tatsachen und Werte nicht voneinander getrennt werden können: "The distinction between 'facts' and 'values' only emerges from gestalts through the activity of abstract thinking."199 Und wie gesagt, auch wir sind Teil solcher Zusammenhänge: "Gestalts bind the I and the not-I together in a whole."200
Indem wir dies wahrnehmen, können wir beginnen, die Grenzen unseres Ichs zu erweitern, uns mit Beziehungen, in denen wir drin stecken, zu identifizieren, sie gewissermassen zu einem Teil von uns Selbst zu machen und damit von einem kleinen Selbst (unser Ego) zu einem grossen Selbst zu gelangen.201 Zufolge Naess ist dieser Vorgang eine unabdingbare Voraussetzung für meine Selbstverwirklichung, eine Selbstverwirklichung also, die nicht auf mich selbst beschränkt ist, sondern nur in Beziehung zu anderem zustandekommen kann.202 Die Selbstverwirklichung von A wird dann zu einer Voraussetzung für die Selbstverwirklichung von B und umgekehrt. Eine solche Bewusstseinserweiterung kann in dem resultieren, was Naess im Anschluss an Kant als "schöne Handlung" bezeichnet, eine Handlung, die sich nach Neigungen und nicht nach moralischen Regeln orientiert:
A person acts beautifully when acting benevolently from inclination. Environment ist then not felt to be something strange or hostile which we must unfortunately adapt ourself to, but something valuable which we are inclined to treat with joy and respect, and the overwhelming richness of which we are inclined to use to satisfy our vital needs.203
Es gibt Weiterentwicklungen des Naess'schen Gedankengutes, z.B. bei Warwick Fox, der in Anlehnung an die Transpersonale Psychologie von "Transpersonaler Ökologie" redet.204 Von den genannten Ansätzen ist der von Naess für unser humanökologisches Anliegen am wertvollsten. Er erfordert die Internalisierung eines relationalen Weltbildes in unserem Bewusstsein und gibt uns auch eine Anleitung, wie wir dies bewerkstelligen können: Durch eine erlebnishafte Aufmerksamkeit unserer Mitwelt gegenüber.

Anmerkungen

196
Arne Naess 1973: 95.
197
Naess 1993:49.
198
Naess 1993: 63.
199
Naess 1993: 60.
200
Naess 1993: 60.
201
In diesem Sinne unterscheidet Naess in der englischen (und der ursprünglichen norwegischen) Schreibweise ein "self" mit kleinem s von einem "Self" mit grossem S (vgl. Naess 1993: 84 ff., 174-175).
202
Siehe Naess 1993: 84 ff., 173 ff.
203
Naess 1993: 85.
204
Siehe Warwick Fox 1995.