www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

6.1.4 Das "globale Gehirn" der Cyberspace190-Futuristen

Die bisher genannten Vorstellungen haben einen spekulativen Charakter in dem Sinne, dass sie offenbar davon ausgehen, dass eine Entwicklung der postulierten Art so oder so stattfinden wird, weil sie gewissermassen in der Logik der Evolution liegt. Auf die Frage, ob dies trotzdem heisst, dass wir Menschen aufgefordert sind, an dieser Entwicklung unterstützend mitzuwirken, gibt es keine klare Antwort. Anders ist dies mit Vorstellungen, die in der gegenwärtigen Entwicklung zur Informationsgesellschaft geradezu eine zivilisatorisch-technische Voraussetzung für den Übertritt der Menschheit aus einer materiell orientierten in eine geistig orientierte Epoche mit einer integralen Bewusstseinsform evtl. planetaren Charakters sehen. Z.B. präsentieren Herbert Matis und Dieter Stiefel ein solches Modell (siehe Abbildung 10).191 In einer künftigen Informationsgesellschaft werden die wichtigsten Ressourcen und Produkte nicht mehr Kapital und materielle Güter sein, sondern Wissen und Information. Schon heute wird ja Information in unglaublichem Umfang produziert:
... während es Anfang des 19. Jahrhunderts etwa 100 Fachzeitschriften gab, existieren heute mehr als 100 000 ... Auf der Frankfurter Buchmessse werden jährlich rund 80 000 Neuerscheinungen an Büchern vorgestellt, und täglich werden etwa 6 000 wissenschaftliche Artikel publiziert.192
Abbildung 10: Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft löst eine materiell durch eine geistig orientierte Epoche der Menschheit ab, die in einem Zustand der "Weisheit" mündet (aus Matis und Stiefel 1991: 249)
Abbildung 10: Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft löst eine materiell durch eine geistig orientierte Epoche der Menschheit ab, die in einem Zustand der "Weisheit" mündet (aus Matis und Stiefel 1991: 249)
Dank der immer totaleren Vernetzung über Informationskanäle steht auch das nötige technische Rüstzeug zur Verfügung, um von dieser Information Gebrauch machen zu können; dies ist die weitverbreitete Meinung. Der Schriftsteller Peter Russell denkt, dass sich infolge der weltweiten Vernetzung ein globales Gehirn entwickelt, vielleicht verbunden mit dem Erwachen eines planetaren Bewusstseins:
[i[We, the billions of minds of this huge "global brain" are being linked together by the "fibers" of our telecommunications systems in much the same way as are the billions of cells in our brain ... Perhaps the ... complex patterns of information flowing among the billions of nodes of our worldwide communication network are giving rise to some sort of awareness at the planetary level.193
Die Weltbevölkerung ist mit ihrem Wachstum auf dem Weg zu 10 Milliarden Menschen. Das aber ist gerade auch die Zahl der Zellen im menschlichen Gehirn. Wie weit wir wirklich in der Lage sein werden, mit dieser Informationsflut auf sinnvolle und fruchtbare Weise umzugehen, so dass wir, wie in Abbildung 10 behauptet, "weise" werden, ist allerdings eine andere Frage. Peter und Trudy Johnson-Lenz sind aber der Meinung, der elektronische Austausch liesse sich mit kontemplativen Traditionen verbinden. Die Teilnehmenden könnten dazwischen reflektieren mit dem Resultat: "We can practice a more mindful conversation."194 Indem die Kommunikation nicht auf einen bestimmten äusseren Zweck gerichtet sei, sondern rein aus Selbstzweck betrieben werde, könne sich ein "Einsichts-Dialog" als eine Art Meditation entwickeln. Auch ein Gruppengeist könne damit gefördertwerden: "Feeling connected to something larger than yourself."195

Anmerkungen

190
Der Begriff "Cyberspace" stammt aus der Science Fiction-Erzählung "Neuromancer" von William Gibson. Es ist der Raum, der innerhalb und zwischen den vernetzten Computern geschaffen wird, in dem Raum und Zeit kollabieren, "giving us the potential to connect with anyone anywhere and information everywhere, here and now" (Peter und Trudy Johnson-Lenz 1997: 43).
191
Siehe Herbert Matis und Dieter Stiefel 1991: 248 ff. Sie geben für Abb.9 als Quellenangabe Nefiodov 1990, 90, an, aber ein entsprechender Eintrag fehlt im Literaturverzeichnis.
192
Matis und Stiefel 1991: 248.
193
Zitiert in Johnson-Lenz 1997: 42.
194
Johnson-Lenz 1997: 45.
195
Johnson-Lenz 1997: 46.