www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

7.3 Fürsorge versus Gerechtigkeit: Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan258

In 5.2 haben wir darauf hingewiesen, dass es eine feministische Kritik der Theorie der moralischen Entwicklung von Kohlberg gibt, die ihr männliche Vorurteile vorwirft. Tatsächlich fällt auf, dass Kohlberg, wie übrigens schon vor ihm auch Piaget, seine theoretischen Vorstellungen aus einer einseitigen empirischen Studie von Individuen nur männlichen Geschlechts entwickelt hat. Der von feministischer Seite erhobene Vorwurf, sein Schema beziehe sich nur auf eine Teilwirklichkeit, scheint berechtigt. Carol Gilligan,259 eine frühere Mitarbeiterin von Kohlberg, wunderte sich bei der Anwendung seiner Testmethoden auf Mädchen und Frauen, daß diese im Vergleich zu männlichen Altersgenossen regelmäßig weniger weit entwickelt zu sein oder gar zu regredieren schienen. So entsprachen die Urteile von Frauen häufig der dritten Stufe des sechsteiligen Kohlbergschen Schemas.260 Aufgrund späterer eigener Untersuchungen in Verknüpfung mit Überlegungen zu den Sozialisationsbedingungen (siehe unten) gelangte sie zur These, daß es zwei verschiedene Entwicklungspfade gibt, einen männlichen, der auf eine individuenzentrierte Moral der Rechte und der Gerechtigkeit, und einen weiblichen, der auf eine personenverbindende Moral der Verantwortung und der Fürsorge tendiert. Dieser Gegensatz wird als Unterschied zwischen einem "postkonventionellen Formalismus" und einem "postkonventionellen Kontextualismus" apostrophiert, womit gesagt sein soll, dass die weibliche Entwicklung nicht auf der konventionellen Ebene stecken bleibt, sondern ebenso wie bei den Männern zu einer postkonventionellen Moral, allerdings eigenständiger Form, fortschreitet.261 Entsprechend entsteht nun ein moralisches Problem aus männlicher Sicht bei einem Konflikt zwischen konkurrierenden Rechten, aus weiblicher Sicht bei einem solchen zwischen einander widersprechenden Verantwortlichkeiten. Männer orientieren sich eher nach positionsbezogenen Überlegungen und suchen zur Lösung von Problemen nach Regeln, die nach Möglichkeit von spezifischen Kontexten abstrahierbar und verallgemeinerbar sind. Frauen dagegen bevorzugen eine personenbezogene Orientierung und Denkweisen, die kontextbezogen, narrativ, nicht formal und nicht abstrakt sind, womit sie Probleme im Rahmen der jeweils vorhandenen konkreten Beziehungen abwägen. So war z.B. typischerweise schon die Aussage eines 11-jährigen Knaben, moralische Dilemmata seien "eine Art mathematisches Problem mit Menschen", während ein mit der gleichen Problematik konfrontiertes gleichaltriges Mädchen an Kommunikation zwischen den Beteiligten als Weg zur Konfliktlösung glaubte.262 Das männliche moralische Empfinden hat einen passiven Charakter, denn es genügt eine gegenseitige Anerkennung von Rechtsansprüchen, während das weibliche einen aktiven Anteil am Aufbau und an der Aufrechterhaltung von anteilnehmenden Beziehungen fordert.
Eine Erklärung für diesen Unterschied findet Gilligan in den in der westlichen Gesellschaft immer noch vorherrschenden Sozialisationsbedingungen. Es sind nach wie vor die Frauen, die in erster Linie für die Kinder sorgen. Dadurch ergeben sich für Mädchen und für Knaben unterschiedliche soziale Umwelten, und diese wirken sich auf die Persönlichkeitsentwicklung aus. Der Unterschied liegt in der Gleichgeschlechtlichkeit der Mutter-Tochter-Beziehung gegenüber der Gegengeschlechtlichkeit der Mutter-Sohn-Beziehung. Ein Mädchen kann sich beim Erwachsenwerden weiterhin stark mit seiner Mutter identifizieren und muß sich nicht in dem Maße von ihr ablösen, wie das von einem Knaben erwartet wird, der so wie der Vater werden sollte. Im Resultat ist Weiblichkeit durch Bindung definiert und durch Trennung bedroht, während Männlichkeit mit Ablösung identifiziert ist, der eine allzu große Intimität gefährlich wird. Entsprechende typische Unterschiede können schon bei Kinderspielen ausgemacht werden, indem die Spiele von Mädchen kooperativer, die von Knaben dagegen stärker konkurrenzorientiert verlaufen. In der Welt der Erwachsenen ergibt sich dann der oben beschriebene Kontrast zwischen einer weiblich und einer männlich geprägten Form des moralischen Urteils. So gesehen kann es auch nicht überraschen, wenn im Modell der bürgerlichen Familie von Talcott Parsons und Robert F. Bales eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung auftritt: Dem Vater kommt eine instrumentelle Rolle zu, die durch die Aufgabe gekennzeichnet ist, Objekte in der Außenwelt verfügbar zu machen, der Mutter eine expressive Rolle, die durch die Erhaltung von Gefühlsbindungen charakterisiert ist.263
Jedenfalls: Die immer noch vorherrschende Sozialstruktur, die der Frau eine Orientierung innerhalb, dem Mann außerhalb des Haushalts zuweist, bedingt spezifische Umstände der Sozialisierung und diese ermöglicht eine grundlegende Polarisierung des Bewußtseinszustandes der Geschlechter, womit die in 7.1 genannten natürlicherweise vorhandenen Differenzen ungemein übersteigert werden.

Anmerkungen

258
Mit geringen Änderungen übernommen aus Steiner 1994: 221-223.
259
Für die folgenden Ausführungen vgl. Carol Gilligan 1991.
260
Gilligan 1991: 29.
261
Siehe J.M. Murphy und Gilligan 1980.
262
Vgl. Gilligan 1991: 39.
263
Siehe Talcott Parsons und Robert F. Bales 1955.