www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

7.1 Kommunikative versus instrumentelle Rationalität: Hans Kummer und Peter Ulrich

Mit der Entstehung der politischen Gesellschaften (vgl. 4.1.2 und 4.2 in "Kulturelle Evolution") etabliert sich eine Männerherrschaft. Die traditionelle Ordnung patriarchaler gesellschaftlicher Strukturen äussert sich wie folgt: Der evolutionär ältere Bereich des Verwandtschaftlichen und Familiären, heute des Privaten, ist den Frauen zugewiesen, während die evolutionär jüngeren Bereiche des Politischen und des Ökonomischen den Männern (deren "Erfindung" sie ja auch sind) vorbehalten sind. Ebenso sind Frauen von der Mitwirkung in Wissenschaft und Philosophie weitgehend ausgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich hier eine Trendwende ab. Diesen geschlechtsbasierten Differenzierungen ist ein gewisser Grad von Natürlichkeit nicht abzusprechen. So hat, wie Dux230 ausführt, die in den genannten gesellschaftlichen Strukturen zum Ausdruck kommende "Innenpositionalisierung der Frau" und die "Aussenpositionalisierung des Mannes" ihre Basis in der Physiologie der Geschlechter. Damit ist aber eben nur eine Basis, eine Anlage angesprochen. In der gesellschaftlichen Entwicklung hat sich daraus eine übersteigerte Polarisierung ergeben, die keinesfalls einer evolutionären Notwendigkeit entsprechen kann. Und dasselbe gilt dann parallel für die Ebene von Bewusstsein und Handlung, indem sich ursprünglich wohl geringfügige Verhaltensunterschiede unter sozialen Zwängen immer stärker differenziert haben. Interessanterweise kann eine solche Polarisierung schon bei den kulturell noch "unverdorbenen" Verwandten von uns, den Tierprimaten, beobachtet werden. Nach dem Schweizer Ethologen Hans Kummer zeigt das Verhaltensrepertoire von weiblichen und männlichen Individuen zwar Verschiedenheiten, aber auch eine starke Überlappung. Die üblichen sozialen Konstellationen bewirken dann aber eine Übersteigerung der anlagemäßig an sich geringen Unterschiede. Hauptaspekt des männlichen Verhaltenssyndroms ist der "Aggress". Darunter ist nicht Aggressivität (was ein engerer Begriff darstellt) zu verstehen, sondern "das energisch tätliche Herantreten an die Umwelt". Im Unterschied dazu ist der Hauptfaktor des weiblichen Syndroms "der pflegerische soziale Zusammenhalt".231
An einer derartigen, zunächst biologisch begründeten Differenz knüpft auch der St. Galler Wirtschaftsethiker Peter Ulrich an, indem er sie mit der Unterscheidung einer instrumentellen (oder technischen) von einer kommunikativen Rationalität durch Jürgen Habermas in Verbindung bringt. Was ist unter diesen beiden Rationalitäten zu verstehen?
Die instrumentelle Rationalität ist im wesentlichen auf das Verfolgen von Zwecken hin orientiert. Effizienz, Optimierung, Steigerung der Verfügbarkeit der objektiven Welt: Das sind ihre Imperative. Sie kommt vor allem in der Technologie, in vielen Aspekten der Natur- und Ingenieurwissenschaften, auch im Militär, in der Verwaltung und in der Ökonomie zum Tragen. Der ökonomische Mensch verkörpert sie in idealer Weise.
Die kommunikative Rationalität orientiert sich dagegen an der zwanglosen Einigung durch Argumente, an der Stiftung von Konsens durch Verständigung. Sie beruht darauf, dass Menschen einander als vernunftbegabte, argumentationsfähige Wesen begegnen. Im kommunikativen Handeln kann es um mehr gehen als nur um das erfolgreiche Erreichen eines Zieles. Es ist jenes Handeln, in dem die subjektiven Grundorientierungen in der Welt zwischen Menschen abgestimmt werden. Man kann daher mit Habermas sagen, dass im kommunikativen Handeln das gesamte menschliche Rationalitätspotential ausgeschöpft wird.232
Ulrich versteht nun die menschliche Kulturgeschichte als Rationalisierungprozess, aber nicht als eindimensionalen, sondern als "Wechselwirkung der je 'eigensinnigen' Entwicklungslogik der kommunikativen Rationalisierung ... einerseits und der funktionalen (technischen) Rationalisierung ... anderseits ...,"233 wobei er die erstere als "Verweiblichung", die letztere als "Vermännlichung" der Kultur versteht.234 Mit "Rationalisierung" ist allgemein ein Vorgang gemeint, bei dem die Denk- und Handlungsformen überlegter und systematischer und auch entsprechend organisiert werden. Auf die beiden Rationalitätsformen bezogen heisst es, dass ihr je spezifisches Potential immer besser verwirklicht wird. Im Falle der instrumentellen Rationalisierung bedeutet dies zunehmende Arbeitsteilung, Standardisierung, Organisation und Bürokratisierung,235 im Falle der kommunikativen Rationalisierung eine Ablösung der traditionalen Inhalte von Weltbildern und Handlungsorientierungen durch immer konsequentere Formen kommunikativer Konsensfindung.236 Die genannte Wechselwirkung (siehe dazu Abbildung 11) kommt dadurch zustande, dass das Ausschlagen des Pendels auf die eine Seite immer schon den Kern der Gegenbewegung in sich trägt, und zwar weil jeweils ungelöste Folgeprobleme in die andere Rationalitätsdimension verschoben werden.237
Abbildung 11: Die kritisch-normative Evolutionsheuristik des Phasenwechsels der Dominanz von technischer Rationalisierung ("Vermännlichung") und kommunikativer Rationalisierung ("Verweiblichung" (aus Ulrich 1987: 77)
Abbildung 11: Die kritisch-normative Evolutionsheuristik des Phasenwechsels der Dominanz von technischer Rationalisierung ("Vermännlichung") und kommunikativer Rationalisierung ("Verweiblichung" (aus Ulrich 1987: 77)
Das sieht nun ein bisschen so aus, dass die zurückliegende Patriarchalisierung unserer Zivilisation Teil einer gewissermassen natürlichen Dialektik ist. Andere würden sich gegen eine solche Interpretation, die als verharmlosend aufgefasst werden kann, wehren. So meint z.B. die deutsche Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth:
... der Übergang von der alten, friedlichen, matriarchalen Kultur ... zu Krieg, Gewalt, Herrschaft, Privateigentum und Staat patriarchaler Herkunft bedeutet einen derart krassen Wechsel in der inneren Verfassung und äusseren Lebensweise der Menschen, dass wir vom tiefsten und problematischsten revolutionären Bruch sprechen müssen, den es in der Geschichte der Menschheit je geben hat.238
Ulrich ist zugute zu halten, dass er sein evolutionäres Schema als "kritisch-normative Heuristik" begreift und zugibt, dass diese Denkfigur mit dem bisherigen faktischen Verlauf des Rationalisierungprozesses durchaus nicht übereinstimmt.239

Anmerkungen

230
Siehe Dux 1992: 164 ff.
231
Hans Kummer 1980: 146.
232
Zierhofer 1993, 37, mit Bezug auf Jürgen Habermas 1981, Bd.1: 28.
233
Peter Ulrich 1987: 70.
234
Siehe Ulrich 1987: 76. Beachten wir, dass Ulrich die beiden Begriffe in Anführungszeichen setzt.
235
Siehe z.B. Günter Hartfiel 1976: 545.
236
Vgl. Ulrich 1987: 71.
237
Vgl. Ulrich 1987: 76.
238
Heide Göttner-Abendroth 1988: 56.
239
Siehe Ulrich 1987: 78.