www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

4.3 Die mythische Stufe133

Der Wandel des Bewusstseins zur mythischen Stufe kann mit der neolithischen Revolution und dem damit verbundenen Übergang zu einer sesshaften und mehr und mehr auf Landwirtschaft beruhenden Lebensweise in Verbindung gebracht werden. Dabei besteht die Vermutung, dass das mythische Denken bei den Gesellschaften, die wir in "Kulturelle Evolution" (4.2. Die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses) "matrizentrisch" genannt haben, eine eigentliche Blütezeit erlebte. Natürlich gab es mythische Vorstellungen dann auch noch eine Zeitlang in den nachfolgenden patriarchalisierten politischen Gesellschaften, aber sie wurden hier einer allmählichen Rationalisierung unterworfen. Nach Gebser wird damit eine "effiziente" Phase des mythischen Bewusstseins, in der das Neue fruchtbar und zukunftsträchtig wirken kann, durch eine "defiziente" Phase abgelöst, in der es seine Kraft und Kreativität verloren hat und schon zum Vorboten einer erneuten Wandlung geworden ist. Er bringt den Wechsel mit dem Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung in Verbindung. Im übrigen haben sich ja dann in ländlichen Gegenden Restbestände von magischem und mythischem Denken, wie die Existenz vieler Sagen und Legenden und auch Ritualen zeigt, bis in die Neuzeit halten können.134
Auf der mythischen Stufe wird nun das Bestehen einer Innenwelt in Form der Seele, des Unbewussten, bewusst. So kann die mythische Existenz als ein schweigendes Nach-Innen-Sehen verstanden werden, eine Art traumhafte Orientierung, die imaginative Bildvorstellungen produziert. Diese werden auf die Aussenwelt übertragen, auch, oder vor allem auch, auf die nichtmenschliche Aussenwelt. Dass hinter den Erscheinungen dieser Aussenwelt dann personenhafte, also menschenähnliche Gestalten, als agierende Kräfte vermutet werden, kann, wie Günter Dux vermutet, damit zu tun haben, dass die Urerfahrung eines neugeborenen Menschen seine Hilflosigkeit und damit Abhängigkeit von der Mutter als pflegender Person ist.135 Das würde aber heissen, dass bei der Gestaltung des mythischen Bewusstseins die praktische Bewusstseinsebene mit ihrer Ausrichtung an Erfahrung und Lernen eine wesentliche Bedeutung hat. Umgekehrt dienen mythische Vorstellungen zur Formierung des praktischen Bewusstseins, indem sie eine lebensumgreifende Bedeutung haben: Mythische Erzählungen, die immer auch auf Naturereignisse wie z.B. die Jahreszeiten bezogen sind, werden in kollektiven Ritualen nachempfunden, womit sie natürlich gleichzeitig auch auf die Gefühlsebene des Unbewussten zurückwirken. Entscheidend ist hier die Möglichkeit der Entstehung von Ich-Du-Beziehungen, zunächst hinsichtlich des Mitmenschen:
Nach Durchmessung der eigenen Seele ... findet der mythische Mensch den andern Menschen ... Auf dem Umweg über das Erwachen zu sich selber erwacht das Du ...136
Beziehungen vom Ich-Du-Typ können sich aber auch auf andere Lebewesen erstrecken, was sich z.B. in totemistischen Vorstellungen137 äussert. Insgesamt können wir für diesen Bewusstseinszustand sagen, dass das praktische Bewusstsein eine wichtige Rolle spielt, allerdings nur vordergründig und nicht dominierend: Es bekommt seine Anleitungen noch weitgehend vom Unbewussten. Dieses ordnet menschliche Erfahrungen in grössere Zusammenhänge ein. Damit liegt ein Zusammenwirken einer Orientierung an der Welt (im Sinne der Weltgebundenheit) mit einem solchen an der Mitwelt vor. Eine immer noch stark holistische Identität steht in Wechselwirkung mit einer Ausrichtung an sozial-kommunikativen Strukturen, wobei, dies ist zu betonen, sich diese Ausrichtung auch auf die nicht-menschliche Mitwelt erstreckt. Folgerichtig ist der Umgang mit der Natur immer noch wenig instrumentalisiert, was sich etwa am Beispiel der Landwirtschaft zeigt, wie sie noch von griechischen Autoren beschrieben wird. Hesiod (ca. 700 v.u.Z.) schildert in den „Erga" genannten Versen, wie im jahreszeitlichen Zyklus landwirtschaftliche Tätigkeiten im Zeichen der Göttin Demeter ausgeführt wurden. Dies bedeutet aber, daß Getreideanbau damals noch nicht als etwas verstanden wurde, das ein Produkt aus sich entlässt, sondern etwas, das den dabei tätigen Menschen eine richtige Lebensführung ermöglicht.138

Anmerkungen

133
Vgl. Gebser 1949: 100 ff.
134
Siehe dazu z.B. das Buch "Goldener Ring über Uri" von Eduard Renner 1991.
135
Vgl. Günter Dux 1990: 93.
136
Gebser 1949: 114.
137
Totemismus, ... der Glaube an mystisch-verwandtschaftliche und kultähnliche Dauerbeziehungen mit einem [Totem] bzw. Abstammung eines Menschen (Individual-Totem), einer soziale Gruppe, z.B. Sippe, Clan u.a. (Gruppen-Totem), von einem Totem (Tier, Pflanze, anderer Gegenstand, Naturerscheinung) (Waltraud Grohs-Paul und Max Paul 1981: 144).
138
Vgl. Jean-Pierre Vernant 1973: 278 ff.