www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

2.2 Kopf, Hand und Herz44

Mit der Gegenüberstellung von Geist und Natur - wir könnten auch sagen von Verstand und Instinkt - haben wir die zwei grundlegenden Pole möglicher menschlicher Innenorientierung genannt. Ist diese Orientierung gleichgewichtig, kann sie wie gesehen via Handeln des Menschen Quelle kreativen Tuns sein, bei Einseitigkeit umgekehrt aber auch Zerstörung produzieren. Die Aussenwelt aber ist nicht nur Tatort, sondern selbst wiederum Quelle von Orientierung, und deshalb ist es nicht gleichgültig, wie wir Menschen diese Aussenwelt beeinflussen, ob in einem positiv-kreativen, oder aber einem negativ-zerstörerischen Sinne. Die Beziehungen eines Menschen zu seiner Umwelt laufen über seine Sinnes- und Erfolgsorgane, und nun ist es wichtig zu sehen, dass diese Organe nicht einfach Transferstationen von Impulsen sind, die von aussen nach innen oder von innen nach aussen laufen, sondern, dass auf ihrer Grundlage eine eigenständige "dritte Kraft" entstanden ist, die sich zwischen die beiden genannten Pole schiebt und so am Kreuzungspunkt der beiden Achsen in Abbildung 2 als Instanz, die eine vermittelnde Rolle übernehmen kann, wichtig wird.
Diese mittlere Ebene ist von grundlegender Bedeutung für die Bildung sozio-kultureller Strukturen oder Regeln, sie bildet die Wurzel von menschlicher Gesellschaft und Kultur überhaupt. So steht sie denn auch bei der Theorie der Strukturation der Gesellschaft von Anthony Giddens im Zentrum der Aufmerksamkeit.45 Auch Ralf Kuckhermann schreibt dieser Bewusstseinsebene, die er als "Sinnenbewusstsein" bezeichnet, eine grundlegende Bedeutung zu: "Das Sinnenbewusstsein stellt die Basisidentität eines Menschen dar, seine physische Verortung in einer raumzeitlichen und sozialen Umwelt."46 Haben wir die beiden oben erwähnten Pole als instinktbezogen und als verstandesgeleitet kennen gelernt, so können wir diesen mittleren Bereich als einen charakterisieren, in dem aus konkreter Praxis abgeleitetes, regelhaftes Tun entsteht. Es handelt sich um das, was sich "between instinct and reason"47 einschiebt, oder, wie Rudi Keller am Beispiel der menschlichen Sprache sagt, um "Phänomene der dritten Art".48
Damit können wir nunmehr drei Bereiche des menschlichen Bewusstseins unterscheiden, und diese bilden eine evolutionäre Folge: Instinkte als ältestes Prinzip bedeuten - jedenfalls in ursprünglichem Zustand, denn der Mensch hat sich ja weit über die Instinktbasis hinaus entwickelt und ist zu einem instinktarmen Lebewesen geworden - natürliche Bindung und Bestimmung, sie sind in langen Zeiten der Stammesgeschichte entstanden und brauchen für eine Veränderung einen langfristigen Horizont. Das Leben nach praktisch erprobten Regeln steht für sozio-kulturelle Bindung und Bestimmung, aber in bereits lockerer Form, auch deshalb, weil Veränderungen von Generation zu Generation möglich sind. Der Verstand schliesslich repräsentiert freiheitliche Entbindung und Unbestimmtheit; er kann sich von einem Moment auf den andern so oder so entscheiden. Dabei wäre dies so zu sehen, dass die Befreiung von Bindung und Bestimmung sich auf den Umstand des So-oder-so-könnens bezieht, nicht aber auf die zur Anwendung gelangende Methodik, die den Regeln einer gewissen Logik folgen soll, ansonsten wir ja nicht von Verstand reden. Die Dichotomie von Natur und Geist - wenn sie als solche empfunden worden ist - wird, wenn nicht aufgelöst, so doch durch die Existenz des mittleren Bereichs gemildert. Das hier entstehende menschliche Tun hat einen quasi-natürlichen Charakter. Es ist eben nicht durch Instinkte, sondern durch Regeln geleitet, die zwar vom Menschen produziert sind, aber nicht mit Hilfe einer verstandesmässigen Planung, sondern gewissermassen als unbeabsichtigtes Nebenprodukt im Gefolge von praktischem Handeln. Die Regeln sind sozusagen organisch gewachsen, und jedem Menschen, der in eine sozio-kulturelle Umwelt hineinwächst, erscheinen sie als vorgegeben und somit wie eine Art zweite Natur.
Abbildung 2: Die beiden Pole der menschlichen Innenwelt und die mittlere Ebene, die zwischen unten und oben, innen und aussen vermittelt
Abbildung 2: Die beiden Pole der menschlichen Innenwelt und die mittlere Ebene, die zwischen unten und oben, innen und aussen vermittelt
Eine zu den drei nun unterschiedenen psychischen Bereichen passende Vorstellung der menschlichen Bewusstseinsstruktur finden wir bei Giddens: Dem Geistigen entspricht das "diskursive Bewusstsein"49, dem wir die Denkfähigkeit des Verstandes zurechnen, dem mittleren Bereich das "praktische Bewusstsein" und dem Natürlichen das "Unbewusste" oder "Tiefenbewusstsein", in dem wir die Quelle von Motivationen, Gefühlen und Intuitionen sehen.50 Nach dem Schweizer Erziehungs- und Bildungsreformer Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) können wir die drei Ebenen auch plakativ als "Kopf", "Hand" und "Herz" bezeichnen (vgl. Abbildung 2).51 Ähnliche Unterscheidungen finden sich auch andernorts, z.B. bei Alois Dempf, der von der "dreifachen Organisation des Menschen" redet, die dazu führt, daß es für ihn eine "Denk- und Gedankenwelt" ("die geistige Welt"), eine "Sinneswelt" (die von der "arteigenen körperlichen Sinneorganisation unmittelbar erfaßt Umwelt") und eine "Vorstellungswelt" ("die Welt der phantastischen, imaginativen Organisation zusammen mit der Triebwelt und dem Streben, die einen Grossteil des Seelenlebens ausmachen") gibt.52 In Tabelle 1 sind diese und andere Dreiteilungen sowie verschiedene beschreibende Charakterisierungen aufgeführt, die sich sicher nicht alle perfekt entsprechen, aber jedenfalls stark überlappen. Sowieso ist eine solche Darstellung bloss eine analytische Schablone, die der Wirklichkeit nur in beschränktem Umfang gerecht wird, denn "so etwas wie 'das Bewusstsein' und 'das Unbewusste' gibt es nicht, sondern nur Abstufungen von Bewusst und Unbewusst."53
Mit einer gewissen Plausibilität - und der nötigen Vorsicht, denn bei allen Tätigkeiten interagieren immer mehrere Hirnteile miteinander - können wir die Bewusstseinsebenen mit ihren psychischen Funktionen auch mit bestimmten Komponenten des Gehirns als materiellem Substrat parallelisieren (vgl. Tabelle 1). In "Menschwerdung" haben wir den Dreifachaufbau (Abschnitt 4.1) und die hemisphärische Spezialisierung (Abschnitt 4.2) des Gehirns kennengelernt. Auf dieser Grundlage ist es möglich, schwerpunktsmässig das Tiefenbewusstsein den älteren Hirnteilen, das praktische Bewusstsein der rechten und das diskursive Bewusstsein der linken Gehirnhälfte des Neocortex zuzuordnen. Wie wir wissen verfügt die rechte Gehirnhälfte über die Fähigkeiten der räumlichen Orientierung und der ganzheitlichen Mustererkennung und spielt deshalb bei Aktivitäten im Bereich der Kunst, des Handwerks und des Sports eine hervorragende Rolle. Die linke Gehirnhälfte verfügt demgegenüber über Modulen für den sprachlichen Ausdruck und für logisches und mathematisches Denken. Dies zeigt sich ganz klar aufgrund von Experimenten, die mit "split-brain"-Patienten durchgeführt worden sind. Bei ihnen ist das corpus callosum, die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären, zur Vermeidung von epileptischen Anfällen unterbrochen worden.54 Um das in Abbildung 3 skizzierte Beispiel zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass die rechte Hälfte unseres Gesichtsfeldes mit unserer linken und die linke Hälfte unseres Gesichtsfeldes mit unserer rechten Gehirnhälfte in Verbindung steht.55 Einem Patienten wird das Wort "Ring" in der rechten und das Wort "Schlüssel" in der linken Hälfte des Gesichtsfeldes gezeigt. Gleichzeitig liegen der Versuchsperson auf einem Tisch vor ihr verschiedene Objekte (darunter auch ein Ring und ein Schlüssel) zur Auswahl vor. Das Individuum ist nun in der Lage zu sagen, dass es das Wort "Ring" erkannt hat, während es über "Schlüssel" keine verbale Aussage machen kann. Dagegen ist es fähig, das zugehörige Objekt mit der linken Hand (die mit der rechten Gehirnhälfte verbunden ist) auszuwählen (siehe Abbildung 3).56
Abbildung 3: Antwortverhalten einer "split brain"-Person, der im rechten Gesichtsfeld das Wort "Ring", im linken das Wort "Schlüssel" gezeigt wird (aus Kastenholz 1987: 12)
Abbildung 3: Antwortverhalten einer "split brain"-Person, der im rechten Gesichtsfeld das Wort "Ring", im linken das Wort "Schlüssel" gezeigt wird (aus Kastenholz 1987: 12)
Tabelle 1: Benennung und Charakterisierung der drei Bewusstseinsebenen nach verschiedenen Perspektiven und Quellen
Bewusstseinsebene
1
2
3
Bewusstseinstyp nach Giddens
Unbewusstes
Praktisches Bewusstsein
Diskursives Bewusstsein
Psychischer Bereich nach Harré57
Deep structure of the mind
Behavioural routines, social orders
Conscious awareness
Leitende Instanz nach Hayek
Instinct
Between instinct and reason
Reason
Phänomene nach Keller
Gefühl
Phänomene der 3. Art
Intellekt
"Welt" nach Dempf
Vorstellungswelt
Sinneswelt
Denk- und Gedankenwelt
Körperteil-Metapher nach Pestalozzi
Herz
Hand
Kopf
Philosophischer Begriff58
Seele
Körper
Geist
Seelenteile nach Platon59
Begierde
Mut, Wille
Verstand
Seelentyp nach Aristoteles60
Vitalseele
Animalische Seele
Vernunftseele
Erkenntnisorgan nach Bonaventura61
Auge der Kontemplation
Auge des Fleisches
Auge der Vernunft
Psychischer Antrieb nach Kuckhermann62
Motivational
Sinnenbezogen
Intentional
Psychische Funktionen
Fühlen, Bewerten
Wahrnehmen, Tun
Denken, Erkennen
Resultierende Art des Tuns
Verhalten
Habituelles Tun
Rationales Handeln
Umweltbezogene Einstellung
Passives Empfangen, Teilnahme
Interaktive Begegnung
Aktive Manipulation, Konstruktion
Menschliche Praxis
Träume, Meditation
Kern der Alltagsbewältigung
Reflexion
Schwergewichtig zugeordnete Hirnteile
Ältere Hirnteile
Rechte Hemisphäre
Linke Hemisphäre

Anmerkungen

44
Mit einigen Änderungen aus Steiner 1997: 49-51 übernommen.
45
Anthony Giddens 1988.
46
Ralf Kuckhermann 1993: 53.
47
Ausdruck von Friedrich August Hayek (1989: 11), der diesem Bewusstseinsniveau eine grundlegende Rolle für die post-archaische Entwicklung menschlicher Gesellschaften zuschreibt, insbesondere im Hinblick auf das ökonomische Marktsystem (wobei er allerdings die Stufe politischer Gesellschaften übersieht).
48
Rudi Keller 1994: 87.
49
Zum Begriff "diskursiv": "Neubildung von lateinisch discursus, 'das Hin- und Herlaufen', 'die Besprechung', 'die Auseinandersetzung', über französisch discursif 'einen Schluss ziehend', von einer Vorstellung, einem Begriff, Urteil oder Schluss zum andern in logischer Folge fortschreitend, das Ganze in unendlichem Progress aus seinen Teilen aufbauend; im Gegensatz zu intuitiv soviel wie begrifflich" (Johannes Hoffmeister 1955: 171).
50
Siehe Giddens 1988: 55 ff.
51
Siehe z.B. Arthur Brühlmeier 1977.
52
Alois Dempf 1950: 90-92.
53
Erich Fromm 1971: 140.
54
Viele der gegenwärtigen Kenntnisse über die Funktionen der beiden Gehirnhälften beruhen auf Untersuchungen mit solchen Patienten. Der Hirnforscher Roger Sperry erhielt 1981 dafür den Nobelpreis.
55
Zur Verdeutlichung: Wenn wir vom rechten (linken) Gesichtsfeld reden, ist damit das angesprochen, das rechts (links) von der Mittelachse im Blickfeld beider Augen liegt.
56
Nach R. Schmidt 1979, aus Hans Kastenholz 1987: 11-12.
57
Siehe Rom Harré, David, Clarke und Nicola De Carlo 1985. Hier wird die Zurordnung der psychischen Phänomene zu drei Bewusstseinsebenen und die Hierarchie dieser Ebenen etwas anders interpretiert als in Tab.1 dargestellt. Insbesondere werden die "social orders", die sozialen Regeln, der gleichen Ebene wie das Unbewusste zugewiesen. Insofern das Gewissen mit beiden Ebenen, dem Unbewussten und dem praktischen Bewusstsein zu tun hat, ist dies nachvollziehbar.
58
Vgl. aber mit der Diskussion in 1.2.
59
Siehe z.B. Hans Joachim Störig 1985: 164-165.
60
Siehe z.B. Peter Kunzmann, Franz-Peter Burkard und Franz Wiedmann 1991: 51.
61
Bonaventura (1217 oder 1221 bis 1274) war ein Franziskaner mit bürgerlichem Namen Johannes Fidanza. Siehe dazu Ken Wilber 1985: 247.
62
Vgl. Kuckhermann 1993.