www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Bewusstsein

1.2 Seele und Geist

Die beiden Begriffe werden sehr unterschiedlich gebraucht, zum Teil synonym, zum Teil in einem abgestuften Sinne, zum Teil als Gegensätze. Im ersten Fall wird wechselweise von Seele oder Geist gesprochen, wenn alle in der Welt existierenden immateriellen Erscheinungen gemeint sind. Dabei wird oft unterschieden zwischen einem Teil, der auf den einzelnen Menschen fällt und einem Ganzen, das die Welt insgesamt umfasst. So gibt es z.B. bei Platon (427-347 v.u.Z.) den Begriff einerseits der Weltseele als der Kraft, die sich selbst und alles andere bewegt, und andererseits der Einzelseele des Menschen, die zwar mit dessen Körper verbunden ist, aber sonst mit der Weltseele wesensgleich ist.9 Hegel (1770-1831) meinte etwas Ähnliches mit seinen Konzepten einerseits des objektiven Geistes, der als der ein ideales Ganze bildende göttliche Geist verstanden wird, und andererseits des subjektiven Geistes, der an das Wesen der individuellen Persönlichkeiten gebunden ist und aber eine Offenbarung des objektiven Geistes darstellt.10
Im zweiten Fall (abgestuftes Verhältnis) bezeichnet Seele ein eingeengteres, Geist dagegen ein umfassenderes Prinzip, in dem das erstere eingeschlossen ist. Z.B. wird in der Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung (1875-1961) in diesem Sinne von Seele und Geist gesprochen:
Unter dem Begriff "Seele" ... soll ... ein bestimmter, abgegrenzter Funktionskomplex verstanden werden, den man am besten als eine Art "innere Persönlichkeit" charakterisieren könnte, als das "Subjekt", zu welchem das Ichbewusstsein des Individuums einen ebensolchen Bezug hat wie zum äusseren Objekt. In der Definition von Jung heisst es "Das Subjekt als 'inneres' Objekt aufgefasst, ist jedoch: das Unbewusste."11
... unter "Geist" [soll] ... eine zwar ... dem Bewusstseinsbereich zugehörige, aber auch dem Unbewussten natürlich verhaftete Fähigkeit aufgefasst werden, die in erster Linie zu ästhetisch-schöpferischen und sittlich-religiösen, sinngerichteten Leistungen des Individuums in Form von Einsichten und Äusserungen führt, die aber auch seinen Denk- und Urteilsakten ebenso wie seinem emotionalen Verhalten eine bestimmte Färbung zu geben vermag. "Geist" in diesem Sinne beinhaltet sowohl den Intellekt als auch die Seele in einer sinnbezogenen "Überhöhung" und Verbindung beider ...12
Im dritten Fall (Gegensätze) schliesslich verengt sich die Bedeutung des Begriffes Geist auf die intellektuellen, verstandesmässigen Fähigkeiten des Menschen und damit kontrastiert er dann mit dem ebenfalls eingeengten Begriff der Seele, so wie er, wie gerade erwähnt, in der Jungschen Psychologie gebraucht wird:
Nun heisst Geist aber im besonderen psychologischen Sinn der menschliche Verstand, das Denken, die Vernunft im Menschen, und insofern diese Fähigkeiten das Leben und Seelenleben des Menschen beherrschen können oder sollen, kann der Geist im Gegensatz zum unbewussten Leben und triebhaften Seelenleben treten.13
Der Psychologe und Philosoph Ludwig Klages (1872-1956) z.B. hat Seele und Geist in diesem Sinne verstanden und daraus einen Widerstreit zwischen beiden konstruiert (vgl. 2.1). Im übrigen ist es auch in der heutigen Zeit noch möglich, einen göttlichen Akt für die Existenz der Seele anzunehmen. Dies tut z.B. Richard Swinburne, indem er dafür argumentiert, dass die Wissenschaft das Auftreten eines mentalen Lebens aus den physischen Grundlagen nicht ableiten könne und dass dafür eine "persönliche Erklärung" (gemeint ist das intentionale Wirken eines Akteurs) in Anspruch genommen werden müsse:
Invoking a personal explanation in this case involves invoking God, a power behind nature, who intentionally keeps the laws of nature operative... and also brings it about that there is linked to the brain of an animal or man a soul which interacts with it in a regular and predictable way.14
In der Art und Weise wie ich im folgenden die Begriffe Seele und Geist verwenden werde, schliesse ich an der Gegensatzpaar-Version an, fasse aber Seele und Geist als komplementäre, und nicht widerstreitende Prinzipien auf. Genauer: Ich stelle in 2.1 Natur und Geist einander gegenüber, wobei im ersteren Term sowohl Seele und Körper inbegriffen sind. Auch dieses Begriffspaar wird natürlich in der Literatur sehr verschieden gebraucht. Carl Friedrich von Weizsäcker hat zu diesem Problem einen Text verfasst, der uns auf einen "verwirrenden kleinen Spaziergang" mitnimmt. U.a. schreibt er:
Geist und Natur - was soll das denn heissen? ... Geist - das meint vielleicht Bewusstsein; Natur - das meint vielleicht Materie? Englisch vielleicht mind and matter? Sie kennen den Scherz: "What is mind? No matter. What is matter. Never mind!"15

Anmerkungen

9
Vgl. Johannes Hoffmeister 1955: 547.
10
Nach Hoffmeister 1955: 249.
11
Nach Jolande Jacobi 1971: 5, Fussnote 1.
12
Nach Jacobi 1971: 6, Fussnote 1.
13
Hoffmeister 1955: 249.
14
Richard Swinburne 1997: 198.
15
Von Weizsäcker 1989: 17.