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Bewusstsein

Bewusstsein

1. Begriffliches
1.1 Bewusstsein
1.2 Seele und Geist
2. Die drei Bewusstseinsebenen
2.1 Natur und Geist: Partner oder Widersacher?16
Mit einigen Änderungen aus Dieter Steiner 1997: 46-49, übernommen.
Das Herauswachsen des Menschen aus der biologischen Evolution stellt einen Fall von Emergenz dar: Es entsteht ein Wesen, in dem sich das neue Phänomen des reflexions- und selbstreflexionsfähigen Bewusstseins entfaltet. Gleichzeitig aber bleibt dieses Wesen mit seinem empfindungsfähigen Leib und den von Natur aus gegebenen psychischen Vorgängen auch dem Bereich der Biologie verhaftet. Nicht von ungefähr haben wir deshalb den Eindruck, dass wir zwei verschiedenen Welten angehören und damit zwiefältige oder sogar zwiespältige Wesen sind. Die so empfundene Dialektik zwischen Natur (Körper und Seele) und Geist (Verstand17
Ich reserviere den Begriff "Vernunft" für einen Bewusstseinszustand, der mehr als bloss auf den Verstand abstellt, also z.B. gerade auch eine Verbindung zum Unbewussten sucht.
) hat als Thema in Form des sogenannten "Leib-Seele-Problems"18
Gerade auch an diesem Begriff zeigt sich die in 1.2 besprochene unterschiedliche Verwendung des Begriffs der "Seele". Entgegen dem Gebrauch, den ich mir für diesen Text vorgenommen habe (Seele als der unbewusste Teil der menschlichen Psyche) ist hier mit Seele die "geistige Seele" oder eben der Geist gemeint. Die englische Bezeichnung "mind-body problem" umgeht diese Schwierigkeit auf der Seite des geistigen Pols, verschiebt aber die Grenze vom beseelten (Leib) zum unbeseelten Körper. Entsprechend wird in deutschen Übersetzungen von englischsprachiger Literatur oft vom Körper-Geist-Problem gesprochen (siehe z.B. John R. Searle 1986: 12).
die Philosophie und später die Wissenschaft seit Beginn des rationalen Denkens in der Antike immer wieder beschäftigt (siehe dazu die Übersicht über die verschiedenen Positionen im Exkurs unten). Dies ist besonders auch in der philosophischen Anthropologie der Neuzeit der Fall (vgl. 1.3.1 in "Menschwerdung"). Der Mensch sei "von Natur unnatürlich", meint z.B. Helmuth Plessner,19
Helmut Plessner 1974: 51.
und Arnold Gehlen fragt:
Warum ist es der Natur eingefallen, ein Wesen zu organisieren, das der ungemeinen Irrtumsfähigkeit und Störbarkeit des Bewusstseins ausgesetzt ist? Warum hat sie den Menschen nicht lieber, statt mit "Seele" und "Geist", mit ein paar sicher funktionierenden Instinkten mehr ausgestattet?20
Arnold Gehlen 1986: 13.
Der Mensch als Wesen, das sich im Spannungsfeld von Natur und Geist selbst fragwürdig ist, diese Situation ist aber nicht erst in der philosophisch-wissenschaftlichen Zeit zum Thema geworden, sondern hat durchaus eine schon längere Geschichte. So fand sie ihren Ausdruck schon früh in mythischen Vorstellungen und archetypischen Symbolen, die in gleicher oder ähnlicher Form in verschiedenen Kulturen bekannt waren und zum Teil bis heute ihre Kraft beibehalten haben. Nehmen wir als Beispiel die von Rudolf Högger beschriebenen Gestalten der Wasserschlange und des Sonnenvogels, die die über nepalischen Tempeleingängen angebrachten Bogenfelder schmücken.21
Siehe Rudolf Högger 1993.
Sie können als Verkörperung von Natur und Geist interpretiert werden, die sich als zwei Grundkräfte im Menschen begegnen.
[Die Schlange] lebt unten. ... Die Schlange hat etwas mit der Grundlage des Lebens und der Kultur zu tun. Sie gehört zur Erde ... Die Schlange ist mächtig, sie ist Lebenskraft. Sie bewirkt Wachstum und Entwicklung, aber sie erschüttert auch die Erde, überschwemmt das Land und zerstört die Kultur.22
Högger 1993: 54 -55.
Der Vogel erscheint oben. ... Ihn kennzeichnet ... die klärende Distanz, das Licht und die Transparenz der Erscheinung. Er überfliegt die tieferen Regionen, nimmt Abstand und erkennt, was aus dem Gewühl in der Tiefe werden will. ... Sein Blick dient der Orientierung und klärt den Standort. Gleichzeitig stellt er den Bezug zur höheren Gesamtordnung her. ... Garuda23
Der mythische Sonnenvogel, der als Bote und Reittier Vishnus dem Himmel angehört.
hat [aber] nicht nur Distanz zur Erde, sondern setzt sich mit deren Kräften direkt und handfest auseinander. Die Schlangen werden gepackt und gezähmt.24
Högger 1993: 55-56.
Das Thema von Vogel und Schlange ist weit verbreitet; es ist auch in anderen Kulturen anzutreffen (siehe Abbildung 1). Von besonderer Bedeutung für unsere heutige Situation ist aber dies: Natur und Geist werden in diesen Darstellungen weder monistisch noch dualistisch aufgefasst, weder als Einheit noch als Zweiheit, sondern als beides. Sie wirken miteinander und doch auch gegeneinander.
Wasserschlange und Sonnenvogel sind Aspekte ein und derselben menschlichen Erfahrung und deshalb untrennbar; sie stellen innerhalb dieser Erfahrung aber zwei entgegengesetzte Pole dar und erscheinen deshalb als unvereinbar. Der seelische Vorgang oder das Erlebnis, das auf der Torana25
Torana = Bogenfeld über dem Tempeleingang.
abgebildet ist, lässt sich ohne diese doppelte Perspektive gar nicht ausdrücken.26
Högger 1993: 61.
Abbildung 1: Vogel mit Schlange im Giebelfeld eines Hauses in Andeer (Graubünden) (aus Högger 1993: 68)
Abbildung 1: Vogel mit Schlange im Giebelfeld eines Hauses in Andeer (Graubünden) (aus Högger 1993: 68)
Exkurs: Die verschiedenen Positionen zum Leib-Seele-Problem
a) Dualismus (Zweiheitslehre): Leib und Seele ("Geist" nach der Terminologie des vorliegenden Textes) sind zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene. Das eine kann nicht auf das andere zurückgeführt werden.
·
a1) Reiner Dualismus: Es gibt keine Wechselwirkung zwischen den beiden Seiten. Beispiel: Descartes (1596-1650) nahm eine Trennung der Welt in das Seelische (res cogitans) und das Materiell-Körperliche (res extensa) vor. Diese Position "führt die doch offenkundig auf gegenseitige Beziehung deutenden Tatsachen darauf zurück, dass der Schöpfer von Anfang an leibliche und seelische Vorgänge eben so geordnet habe, dass sie einer vorbestimmten Harmonie ... einander zugeordnet seien ohne gegenseitige Beeinflussung."27
Brugger 1985: 220.
·
a2) Interaktionismus: Leib und Seele (Geist) gehören zwei verschiedenen Welten an, die aber in Wechselwirkung miteinander stehen. Beispiel: Der Gehirnforscher John C. Eccles vertritt die Auffassung, dass bestimmte neuronale (physikalische) Zustände des Gehirns den Geist beeinflussen, dass es umgekehrt aber auch eine Einwirkung des letzteren auf das Gehirn gibt.28
Siehe John C. Eccles1985, 18. Eccles (1985, 16 ff.) befasst sich auch allgemein mit den verschiedenen Antworten auf das Leib-Seele-Problem. Zu einer Gegenüberstellung von Interaktionismus und Parallelismus siehe Alfred Gierer 1985: 222 ff.
Oft wird dabei angenommen, dass der Geist ein evolutionär gesehen emergentes Phänomen ist, das aus der Gehirntätigkeit entsteht, aber auf diese nicht reduzierbar ist.29
Siehe dazu z.B. Roger Sperry 1985: 121 ff.
b) Monismus (Einheitslehre): Es gibt nur eine Welt. Leib und Seele sind zwei Ausdrucksformen ein und derselben Wirklichkeit.
·
b1) Integraler Monismus: Die beiden Seiten ruhen ungeschieden ineinander. Dies ist in den urzeitlichen Weltauffassungen der Fall, zu denen eine Rückehr heute nicht mehr möglich ist. Diese Bemerkung ist auf den heutigen wachsenden Wunsch einer Überwindung des Dualismus gemünzt, ohne dabei zu einem partikularen Monismus (siehe unten) als "Zerfallsprodukt des Dualismus"30
Hans Jonas 1973, 31.
Zuflucht zu nehmen. "Ein neuer integraler, d.h. philosophischer, Monismus kann die Polarität nicht rückgängig machen, sondern muss sie bewältigen, sie in eine höhere Einheit des Seins aufheben."31
Jonas 1973: 30.
Beispiel: Der englische Philosoph Owen Barfield (1898-1997) sieht im Materiellen die Aussenseite, im Geistigen, das sich aus einem überindividuellen Feld heraus im subjektiven Bewusstsein manifestiert, die Innenseite der Natur.32
Siehe Owen Barfield1991.
"Im Atem treffen sich Innen- und Aussenseite auf höchst intensive Weise. Der Atem ist damit Paradigma für eine gegenseitige Durchdringung der Gegensätze."33
Elmar Schenkel 1991: 207.
Eine enger gefasste Form eines integralen Monismus wird vom Parallelismus (auch Identitätstheorie genannt) vertreten. Danach sind das Leibliche und das Seelische (Geistige) zwei Erscheinungsformen der gleichen grundliegenden Wirklichkeit, die an sich nicht erkennbar ist. Beispiel: In weiten Kreisen der Neurobiologie wird gegen die These des Interaktionismus (siehe oben) eine durchgehende eindeutige Zuordnung seelischer zu neuronalen Zuständen postuliert.34
Vgl. Gierer 1985, 222 ff., auch Brugger 1985: 220.
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b2) Partikularer Monismus: Diese Position geht dem Problem aus dem Weg, indem in einseitiger Weise das eine oder das andere Phänomen als primär gesehen wird, aus dem sich das übrigbleibende zweite Phänomen dann ableitet.
·
Idealismus: Der Geist stellt das ursprüngliche Sein dar, alles andere, insbesondere auch die materiellen Erscheinungen, sind von ihm her bestimmt. Beispiel: In der Antike postulierte Platon eine vorgängige geistige Welt der Ideen, die sich dann in körperlichen Formen materiell realisieren.35
Allerdings wird auch gesagt, die Lehre Platons entspreche nicht einem reinen Idealismus, sondern hätte einen dualistischen Anstrich, weil er für die Materie neben dem Geist eine gleich ursprüngliche Existenz annehme (siehe Brugger 1985: 174).
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Materialismus: Das Körperliche ist das grundlegend Wirkliche. Alle übrigen Erscheinungen sind blosse Epiphänomene der materiellen Realität. Dies ist immer noch die in der Moderne vorherrschende, naturwissenschaftlich gestützte Vorstellung. Beispiel: 1824 vertrat der französische Arzt und Philosoph Pierre Jean Georges Cabanis die Meinung, Gedanken seien eine Absonderung des Gehirns, so wie die Galle eine Aussscheidung der Leber sei. Ein namhafter Neurobiologe der heutigen Zeit, der im Prinzip eine entsprechende Auffassung vertritt, ist der Franzose Jean-Pierre Changeux. Er stellt die Frage: "Wozu von 'Geist' reden?"36
Auf dem Umschlag des Buches von Jean-Pierre Changeux 1984.
und wendet sich dagegen, dass die Psychologie hartnäckig den Status einer "Spezialwissenschaft" neben der Neurologie beanspruche.37
Changeux 1984: 346.
Die Gleichzeitigkeit des Einen und Verschiedenen entspricht dem Denken in Polaritäten, wie es Jean Gebser dem mythischen Bewusstseinszustand zuschreibt: "In der Polarität hat die Entsprechung Gültigkeit; jede Entsprechung ist ein ergänzender, ein ganzmachender Vollzug ..."38
Jean Gebser 1949: 147.
Natur und Geist in solcher polarer Form zu erleben, birgt das Potential in sich, das Ganzmachende in Handlungen auf die Aussenwelt zu übertragen. Wann immer sich dieses Potential durchgesetzt hat, sind weitgehend harmonische Siedlungs- und Landschaftsgestaltungen die Folge gewesen - denken wir etwa an die traditionelle bäuerliche Kulturlandschaft Mitteleuropas. Aber gerade auch Nepal ist ein Beispiel dafür; für Högger stellen die traditionellen nepalischen Bauten "überzeugende Kunstwerke" dar.39
Högger 1993: 33.
Das heisst aber, dass Artefakte in einer Landschaft durchaus einen quasi-natürlichen Charakter haben können, aber die Voraussetzung dazu ist ein ausgeglichener Bewusstseinszustand. In psychologischer Sprache kommt dies einem Ausgleich zwischen Fühlen und Denken gleich. Damit ist auch gesagt, dass das Zusammenwirken der beiden Pole, und nicht ihre Gegensätzlichkeit, wesentlich ist, ja, dass die letztere vielleicht nur eine scheinbare ist. So meint etwa Jeremy W. Hayward: "Emotionalität und Denken sind keine grundverschiedenen Dinge, sondern eher die beiden Enden eines Spektrums."40
Jeremy Hayward 1990: 95.
Es scheint, dass wir in der westlichen Zivilisation auf dem Weg zur Moderne irgendwann die Fähigkeit verloren haben, Natur und Geist in dieser polaren Form zu erleben und deren Ganzmachungs-Potential sich auf unsere Handlungen auswirken zu lassen. Stattdessen haben wir seit der Aufklärung dem Geistigen in immer stärkerem Masse das Primat zugewiesen, in der Meinung, wir könnten damit unwürdige Lebensweisen des Menschen durch würdigere ersetzen. Aber: "Wir kennen nun die Frostschäden, die eine solche Linearisierung des Menschen auf das Progressive des Wissens zur Folge hat."41
Karl Schmid 1977: 160-61.
Dabei entstehen die Schäden nicht nur als direkte Folge der uneingeschränkten Übersetzung des Wissens in technische Artefakte und deren rücksichtslose Anwendung, sondern auch in indirekter Konsequenz dieser Einseitigkeit, weil sie kompensatorische Effekte des ausgegrenzten Irrationalen hervorruft. Der Vogel und die Schlange treffen sich nicht, sie wirken aneinander vorbei.
Angesichts des Ausmasses der heutigen Umweltzerstörung möchte man fast geneigt sein, der These von Ludwig Klages zuzustimmen, wonach der Geist als feindliche fremde Macht in die irdische Welt eingebrochen ist und hier nun "als Widersacher der Seele" das Leben bedroht (vgl. 1.2).42
Für eine kurze Darstellung der Gedanken von Klages siehe z.B. Bernard Delfgaauw 1966: 83.
Doch selbst wenn dem so wäre, wir können diesen Geist nicht abschaffen, wir bleiben "Bürger zweier Welten ... Mittleres zwischen Tier und Engel,"43
Jonas 1986: 67.
und wir müssen sehen, wie wir damit zurecht kommen. Jedenfalls wird klar: Einseitigkeit ist gefährlich, sie endet in Sackgassen oder letztlich in der Selbstvernichtung, Zweiseitigkeit kann für eine evolutionär-kreative Kontinuität sorgen, die zwar, wie die erwähnten Beispiele zeigen, Harmonie zu produzieren vermag, aber nicht nur, sondern immer auch mit dem Aushalten von Widersprüchen verbunden ist.
2.2 Kopf, Hand und Herz44
Mit einigen Änderungen aus Steiner 1997: 49-51 übernommen.
2.3 Mehr zum praktischen Bewusstsein63
Mit einigen Änderungen aus Steiner 1997: 51-54 übernommen.
2.4 Implizites und explizites Wissen
3. Welt, Mitwelt, Umwelt: Die drei Bewusstseinsebenen und ihre Beziehungsfähigkeit86
Mit einigen Änderungen aus Steiner 1997: 54-67 übernommen.
3.1 Die Welt und Ich
3.2 Ich und Du, Du und Ich
3.3 Ich und die Welt, Ich und Es
4. Bewusstseinsentwicklung in der kulturellen Evolution (Jean Gebser)126
Mit einigen Änderungen übernommen aus Steiner 1997: 83-86, und Zusätzen aus Steiner 1994: 205-215.
4.1 Die archaische Stufe128
Vgl. Gebser 1949: 73 ff.
4.2 Die magische Stufe130
Vgl. Gebser 1949: 79 ff.
4.3 Die mythische Stufe133
Vgl. Gebser 1949: 100 ff.
4.4 Die mentale Stufe139
Vgl. Gebser 1949: 123 ff.
5. Zur ontogenetischen Bewusstseinsentwicklung
5.1 Der genetische Strukturalismus von Jean Piaget
5.2 Die Theorie der moralischen Entwicklung von Lawrence Kohlberg
6. Ist das Bewusstsein der Zukunft transpersonal?
6.1 Die Transzendenz des mentalen Ich-Bewusstseins: Einige Vorstellungen
6.1.1 Das "integrale Bewusstsein" bei Jean Gebser
6.1.2 Der "Punkt Omega" bei Pierre Teilhard de Chardin
6.1.3 Das "transpersonale Überbewusstsein" bei Ken Wilber
6.1.4 Das "globale Gehirn" der Cyberspace190
Der Begriff "Cyberspace" stammt aus der Science Fiction-Erzählung "Neuromancer" von William Gibson. Es ist der Raum, der innerhalb und zwischen den vernetzten Computern geschaffen wird, in dem Raum und Zeit kollabieren, "giving us the potential to connect with anyone anywhere and information everywhere, here and now" (Peter und Trudy Johnson-Lenz 1997: 43).
-Futuristen
6.1.5 Die "Selbstrealisierung" bei Arne Naess
6.2 "Leere" und "Fülle" in der buddhistischen Bewusstseinslehre205
Mit einigen Kürzungen übernommen aus Steiner 1997: 98-106.
7. Gibt es ein weibliches und ein männliches Bewusstsein?
7.1 Kommunikative versus instrumentelle Rationalität: Hans Kummer und Peter Ulrich
7.2 Natur versus Geist: Erich Neumann und Gerda Weiler
7.3 Fürsorge versus Gerechtigkeit: Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan258
Mit geringen Änderungen übernommen aus Steiner 1994: 221-223.
Zitierte Literatur