www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Kulturelle Evolution

1.1 Gesellschaft und Kultur

"Gesellschaft" und "Kultur" sind zwei Begriffe, die in sehr unterschiedlicher und vieldeutiger Weise benutzt werden. Es gibt im Prinzip drei Möglichkeiten:
1.
Beide Begriffe werden synonym für die Gesamtheit der Aspekte menschlichen Zusammenlebens verwendet. Wenn wir z.B. von der "kulturellen Evolution" reden, bezieht sich der Begriff der Kultur auf geistige, soziale wie auch materielle Merkmale der Menschheitsgeschichte. Entsprechend wäre dann auch der Ausdruck "gesellschaftliche Evolution" möglich, aber "kulturelle Evolution" hat sich nun mal eingebürgert.
2.
"Kultur" wird als Oberbegriff verwendet, "Gesellschaft" als Unterbegriff oder umgekehrt. Z.B. ist nach dem Wörterbuch der Soziologie von Wilhelm Bernsdorf unter "Gesellschaft" die soziale Lebensform der Menschen, die Art und Weise, wie sie ihr Zusammenleben organisieren, zu verstehen.1 Zu "Kultur" heisst es im gleichen Wörterbuch: Sie "ist die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschliesslich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert-Einstellungen." Und weiter: "Die 'typischen Lebensformen' umfassen auch die technischen Grundlagen des Daseins samt ihren materiellen Substraten ... Es steht nichts im Wege, die materiellen Bestandteile ... als 'materielle Kultur' zu bezeichnen."2 Insgesamt tönt dies so, wie wenn "Kultur" ein übergeordneter Begriff wäre, der "Gesellschaft" einschliesst. Der Zürcher Soziologe Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny dagegen weist darauf hin, dass umgekehrt oft von der "Kultur" einer "Gesellschaft" gesprochen wird, wobei dann also der letztere Term zum Oberbegriff wird.3 Im Lexikon der Soziologie von Günter Hartfiel heisst es z.B. unter dem Stichwort "Gesellschaft": Umstritten ist, welches die ursächlichen Bestimmungsfaktoren von Gesellschaft sind: ob Gesellschaft über Prozesse der Institutionalisierung von Kultur, d.h. über eine allgemeine Anerkennung von bestimmten (religiös, ethisch, moralisch usw. begründeten) Werten und deren Präzisierung zu Anweisungen, Regeln und Normen für menschliches Handeln sich bildet; oder ob Gesellschaft ein Resultat bestimmter (entweder 'natürlicher' oder bereits immer von Menschen durch Arbeit umgestalteter) materieller Daseinsbedingungen ist.4
3.
Beide Begriffe bezeichnen Teilaspekte des menschlichen Zusammenlebens. In diesem Fall verstehen wir unter "Gesellschaft" die oben genannte soziale Lebensform oder Organisation des menschlichen Zusammenlebens, unter "Kultur" dagegen die das Zusammenleben tragende "Geistesverfassung", die auf einem Weltbild gründet und sich in der Form kultureller Orientierungen äussert. Dies ist in Übereinstimmung mit Hoffmann-Nowotny, der die beiden Begriffe als gleichberechtigt und in einem Spannungsverhältnis stehend betrachtet. Er sagt, es liege nahe, " 'Gesellschaft' ... als Struktur eines sozialen Systems zu verstehen, auf die wir mit Begriffen wie Stand, Klasse, Schicht, oder Ungleichheit, Macht, Herrschaft etc. verweisen." Und im Gegensatz dazu: " 'Kultur' meint symbolische Repräsentationen, auf die wir Begriffen wie Wert, Norm, Institution, Ideologie, Recht, Religion, Vorstellungen, Wahrnehmungsmuster etc. Bezug nehmen."5 Wenn wir neben den Ebenen der Orientierung und der Organisation noch die der materiellen Reproduktion dazunehmen, kommen wir zur häufig benützten Dreiteilung in Superstruktur, Struktur und Infrastruktur. Diese betrachten wir unten in 1.2 noch genauer. Im folgenden werden wir beide Begriffe entweder im weiteren Sinn wie unter 1. oder im engeren Sinne wie unter 3. gebrauchen. Aus dem Zusammenhang dürfte an sich meistens klar sein, welche Bedeutung gemeint ist, aber zur Sicherheit treffen wir die folgende Unterscheidung: Im ersteren Fall schreiben wir "Gesellschaftw" bzw. "Kulturw", im letzteren "Gesellschafte" bzw. "Kulture".

Anmerkungen

1
Wilhelm Bernsdorf 1972: 287.
2
Bernsdorf 1972: 479.
3
Hans-Joachim Nowotny 1989.
4
Günter Hartfiel 1976: 227.
5
Hoffmann-Nowotny 1989.