www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Kulturelle Evolution

3.4 Die ungeplante aber trotzdem gerichtete Entwicklung: Elias

Der Soziologie und Kulturphilosoph Norbert Elias (1897-1990) hat in seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" eine Theorie entwickelt, in der er die kulturelle Evolution als Resultat einer Wechselwirkung zwischen einer Entwicklung auf der individuellen psychischen Ebene (der "Psychogenese" und einer Entwicklung auf der kollektiven sozialen Ebene (der "Soziogenese") auffasst.51
Der Begriff der Psychogenese bezeichnet die langfristige Entwicklung menschlicher Persönlichkeitsstrukturen, mit der spezifische Wandlungen des menschlichen Verhaltens einhergehen, für die Elias das Prädikat 'Zivilisierung' des Verhaltens verwendet.
Der Begriff der Soziogenese bezeichnet demgegenüber die langfristige Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen, d.h. die Herausbildung von Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit (Stände, Klassen, Schichten), von Machtstrukturen von gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen, vor allem in Form des Staatswesens.52
Zusammengefasst lautet Elias' Argumentation wie folgt: Der langfristige Gesellschaftsprozess ist durch eine zunehmende sozioökonomische Differenzierung (Funktions- und Arbeitsteilung) gekennzeichnet, die sich aus dem Wettbewerbsdruck und dem damit verbundenen Zwang zur Produktivitätssteigerung ergibt. Differenzierung bedeutet, dass es eine Zunahme an Teilfunktionen gibt, die aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind. Die einzelnen Handlungen und Vorgänge müssen immer besser miteinander abgestimmt und synchronisiert werden. ... Mit der Ausdifferenzierung von immer mehr Teilfunktionen werden die Abhängigkeits- und Wirkungsketten länger. Das Handeln in längeren Abhängigkeits- und Wirkungsketten erfordert jedoch ein berechenbares, reguliertes und kontrolliertes Verhalten jedes einzelnen. ... Die Kontrolle der eigenen Triebe und Affekte, die Entwicklung eines weitsichtigeren, vielleicht auch 'rationaleren' Verhaltens, das einem hohen Niveau an gesellschaftlicher Differenzierung und Interdependenz Rechnung trägt, bezeichnet Elias als den 'Prozess der Zivilisation'. Kontrolliertes, 'zivilisierteres' Verhalten ermöglicht wiederum - und damit schliesst sich der Kreis - eine weitere gesellschaftliche Differenzierung, so dass beide Prozesse, Soziogenese und Psychogenese, sich gegenseitig bedingen und befördern.53
Die erste und wichtigste Schlussfolgerung ... lautet, dass sich der gesellschaftliche Entwicklungsprozess als ganzer ungeplant, aber dennoch strukturiert und gerichtet vollzieht. Ungeplant heisst, dass die Zivilisation und Staatsbildung in keiner Weise 'rational' verläuft, dass es zu keiner Zeit eine planende Instanz gegeben hat, die den Entwicklungsprozess in diese Richtung gesteuert hätte. Zwar haben alle beteiligten Individuen ... ihre persönlichen Ziele und Pläne, die sie zu verwirklichen trachten; diese individuellen Ziele müssen - auch in ihrer Summe - jedoch keineswegs in die Richtung weisen, in welcher der Zivilisations- und Staatsbildungsprozess tatsächlich voranschreitet. ... Der Entwicklungsprozess ist zwar strukturiert und gerichtet, aber er folgt keiner Teleologie, und da er kein Ziel hat, kann er nicht als Prozess des Fortschritts gewertet werden. Strukturiert und gerichtet heisst, dass der Wandel andererseits keineswegs zufällig und chaotisch verläuft, sondern doch eine gewisse Ordnung aufweist. Zwar vollzieht sich der Zivilisations- und Staatsbildungsprozess nicht unilinear, sondern in Schüben und Oszillationsbewegungen, aber er weist - langfristig betrachtet - doch in eine bestimmte Richtung, die durch zunehmende Affektkontrolle und gesellschaftliche Integration gekennzeichnet ist.54

Anmerkungen

51
Norbert Elias 1969.
52
Ralf Baumgart und Volker Eichener 1991: 54.
53
Baumgart und Eichener 1991: 55-56.
54
Baumgart und Eichener 1991: 77.