www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Kulturelle Evolution

2.4 Soziale Integration und System-Integration, Gemeinschaft und Gesellschaft

Die Integration menschlicher Individuen zu einer Gesellschaftw, im folgenden auch soziales System genannt, geschieht über Relationen, die gewisse Interaktionen oder Transaktionen beinhalten. Wenn sich diese zwischen physisch anwesenden Personen abspielen, also Personen, die sich in Ko-Präsenz von Angesicht zu Angesicht ("face to face") leibhaftig sehen und miteinander sprechen können, redet Giddens von sozialer Integration.27 Wenn sie aber zwischen physisch nicht anwesenden Personen, also anonym, ablaufen, verwendet er die Bezeichnung der System-Integration.28 Wir werden bei der folgenden Besprechung des Ablaufs der kulturellen Evolution sehen, dass die Entwicklung von einem Zustand mit ausschliesslich sozialer Integration bei ursprünglichen Gesellschaftenw zu immer mehr System-Integration bei modernen Gesellschaftenw läuft.
Auf die Verhältnisse der Abbildung 3 bezogen: Als Mutter steht die Frau in einem Verhältnis sozialer Integration zu ihrem Kind. Ebenso wird sie an ihrem Arbeitsplatz mit Kollegen und Kolleginnen und der unmittelbar vorgesetzten Person interagieren. Dagegen bekommt sie vielleicht den Direktor und den Verwaltungsrat der Firma nie zu Gesicht und steht zu ihnen deshalb über die Operationen der Firma in einem bloss system-integrativen Verhältnis. Der Lohn, den die Frau für ihre Arbeitsleistung bekommt, wird vermutlich nicht mehr, wie früher, in einer Lohntüte direkt überreicht, sondern auf ein Bankkonto einbezahlt, womit weitere Beziehungen anonymer, system-integrativer Art involviert sind. Schliesslich kann die Frau, wenn sie ein aktives Parteimitglied ist, an die Versammlungen der betreffenden Partei gehen und damit mit andern Mitgliedern in direkte Kommunikation treten. Umgekehrt kümmert sie sich vielleicht nicht um die konkreten Aktivitäten ihrer Partei und bezahlt lediglich ihren Mitgliederbeitrag, was dann ein weiteres Beispiel für einen system-integrativen Zusammenhang wäre.
In der Neuzeit nehmen systemische Beziehungen in ausgesprochener Weise überhand. Sie werden ermöglicht durch einen Vorgang zunemender Arbeitsteilung und Hierarchisierung, der den Individuen Teilaufgaben zuweist, deren Sinn sie u.U. nicht mehr sehen können, da ihnen der Überblick über und das Verständnis für das Ganze fehlen. Max Weber hat diese Entwicklung als "Bürokratisierung" beschrieben.29 Zwar lässt sich damit das gesellschaftliche Geschehen effizienter abwickeln, aber ausser dem Sinnverlust noch um einen anderen Preis. Das bürokratische System etabliert eine "legale Herrschaft", d.h. die mit der Aufklärung verbundene Rationalisierung, die zunächst zur Befreiung des Individuums führt, wird ironischerweise später durch die Rationalisierung der gesellschaftlichen Organisation so kompensiert, dass das gleiche Individuum durch die Herrschaft des Systems neu versklavt wird.
Die Gegenüberstellung von sozialer und systemischer Integration zeigt eine gewisse Überlappung mit der älteren Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft beim deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936). Allerdings ist hier nicht die Frage von An- bzw. Abwesenheit der Interaktionspartner das entscheidende Kriterium, sondern ihre Motivationslage.
Die "Gemeinschaft" (z.B. Familie, Nachbarschaft und Freundschaft) wird von gefühlsmässigen, innigen sozialen Beziehungen gekennzeichnet und resultiert aus dem "Wesenwillen" der jeweils Beteiligten. Diese Willensart ist stark emotionsgeladen und unterliegt nicht dem rationalen Zweck-Mittel-Denken. Die "Gesellschaft" hingegen (z.B. Aktiengesellschaft, Politik, Grossstadt) wird von individuellen Interessen und lockeren Sozialbeziehungen geprägt. Sie dient der Erreichung bestimmter Zwecke und resultiert aus dem "Kürwillen", in dem rationales Zweck-Mittel-Denken von Einzelmenschen zum Ausdruck kommt.30

Anmerkungen

27
Giddens 1984: 28, 64 ff. und 139 ff.
28
Giddens 1984: 28 und 139 ff.
29
Max Weber 1956; zur Rationalisierungsthese von Weber siehe auch Hauck 1988: 74 ff.
30
Hartfiel 1976, 651.