www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

1.4 Entlässt die Natur den Menschen?

"Entlässt die Natur den Menschen?": Dies ist der Titel eines Buches von Adolf Portmann.22 Tatsächlich stellt sich die Frage, ob der Mensch noch als Naturwesen betrachtet werden kann oder nicht. Dass wir uns gerne der Natur entgegengestellt fühlen, zeigen Kontrastpaare wie "Natur und Geist" und "Natur und Kultur". Wenn wir aber dem Befund, dass der Mensch aus der biologischen Evolution herausgewachsen ist, zustimmen, müssen wir fragen: Hat sich die Natur hier gewissermassen selbst überlistet? Hat sie wirklich ein emergentes Phänomen produziert, das nun in einem gegensätzlichen Sinne auf sie selbst zurückwirkt? Jede nächsthöhere Stufe in einer evolutionären Hierarchie von Emergenzen verfügt gegenüber der nächstunteren über einen Zuwachs an Freiheit. Beim Sprung zum Menschen haben die zusätzlichen Freiheitsgrade uns die Willensfreiheit und aber auch das Vermögen moralischer Entscheidungsfähigkeit beschert. Es ist nun die Frage, wie wir damit umgehen. Jede zusätzliche Freiheit hat ihr Gegenstück in einer verstärkten Bindung. Wir Menschen können unser Tun nicht an reiner Willkür ausrichten, ohne dass wir unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Um dies zu vermeiden, gibt es eigentlich nur eine einer relationalen Sichtweise entsprechende Lösung, etwa so, wie sie der Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich vertritt:
Bloss für mich bin ich nicht Ich, und bloss für uns sind wir nicht Wir. Wir sind es nur in der Gemeinschaft der Natur. ... wofür sind wir gut im Naturzusammenhang des Lebens? Ich denke, dass Kultur der am ehesten spezifisch menschliche Beitrag zur Naturgeschichte ist. Unter Kultur ist dabei die Integrität einer menschlichen Gesellschaft in der Natur zu verstehen.23
Wie aber geht die Wissenschaft mit dem Wesen "Mensch" um? Entweder bescheidet sie sich und gibt zu, dass es hier keine umfassende und zusammenhängende wissenschaftliche Sicht auf den Menschen geben kann, sondern nur verschiedene fragmentarische Perspektiven. Oder aber sie ist dreist genug, um die Möglichkeit einer übergeordneten wissenschaftlichen Theorie zu behaupten. Im ersteren Fall führt die Betrachtung des Menschen über die Wissenschaft hinaus zu Philosophie und Religion - wir weisen anschliessend mit dem Thema der philosophischen Anthropologie auf den ersten Schritt hin. Ein Beispiel für den letzteren Fall ist der Integrationsversuch der Soziobiologie, die wir ebenfalls kurz vorstellen werden.

Anmerkungen

22
Adolf Portmann 1970.
23
Klaus Michael Meyer-Abich 1997: 12.