www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

4.3 Bedeutung der menschlichen Gehirnorganisation

Kenntnisse über die neurobiologische Grundlage der menschlichen Existenz, d.h. über die Funktionen der verschiedenen Teile des Gehirns und ihr Zusammenwirken, können von wesentlicher Bedeutung für gewisse Aspekte der Mensch-Umwelt-Problematik sein. Bei der Betrachtung dieser Frage stellt sich aber auch immer das Problem, biologisch basierte Veranlagungen von Sozialisations- und Erziehungseffekten trennen zu können. Bezüglich der "Dreifachheit" des Gehirns ist es wichtig zu verstehen, dass immer alle drei Schichten aktiv sind, und dass die unteren, älteren Anlagen nur teilweise unter der Kontrolle des Grosshirns stehen. Das heisst aber, dass auch der Mensch nur zum Teil ein rationales Wesen ist. "Vielleicht die grösste und wahrscheinlich die gefährlichste Illusion, die wir uns über uns selbst machen, ist die seit Urzeiten genährte Überzeugung, dass wir uns durch den Besitz von Vernunft von allen andern Lebewesen grundsätzlich und radikal unterscheiden", meint von Ditfurth.99 Das gleiche Problem ist in der Geschichte über den Psychiater angesprochen, der, nachdem er von MacLeans Theorie gehört hatte, zu einem Kollegen gesagt haben soll: Wenn ein Mensch auf der Couch liegt, muss man immer daran denken, das dies nicht nur ein Mensch, sondern gleichzeitig auch ein Pferd und ein Krokodil ist.
Andererseits können beim Menschen Probleme dadurch auftauchen, dass die von Natur aus doch wohl "beabsichtigte" Integration der drei Teilhirne nicht richtig klappt. Dies kann insbesondere das Wechselspiel zwischen Verstand und Emotionen betreffen. Affektive Gefühle können eine verbindende Brücke zwischen Aussen- und Innenwelt darstellen, und es scheint erwiesen zu sein, dass Träume, die man als in eine Bildsprache übersetzte Vorgänge im L-System begreifen kann, als kompensatorische Tätigkeit des Unbewussten auf Probleme der Innenwelt aufmerksam machen können. Bei den Tieren (auch den Menschenaffen) ist die Verbindung zu den emotionalen Zentren immer direkt gegeben: Fast all ihr Verhalten hängt von direkten sensorisch-limbischen und limbisch-motorischen Verbindungen ab, d.h sensorische Inputs und motorische Outputs müssen in Relation zu emotionalen Reaktionen stehen. Im menschlichen Gehirn dagegen kann es, z.B. beim Gebrauch von Sprache, assoziative Ketten geben, die nur im nicht-limbischen Bereich liegen.
Eine Zeitlang glaubte man, der linken Hemisphäre mit dem Sitz der Sprachfähigkeit einen dominanten Status zuweisen zu müssen. Entsprechend wurde dann die rechte Hemisphäre als subdominant bezeichnet. Heute wird eine solche Dominanzthese nicht mehr vertreten, sondern es wird betont, dass das Zusammenwirken der beiden Hälften, jede mit den ihr eigenen Fähigkeiten, wesentlich ist. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass bei den meisten mentalen Vorgängen beide Hemisphären mehr oder weniger stark beteiligt sind; schliesslich sind sie unter sich ja auch durch ein grosses Bündel von Fasern (corpus callosum) verbunden. Andererseits darf aber auch vermutet werden, dass die linke Hirnhälfte stärkeren Anteil am "obersten" Bewusstsein hat, während die rechte dafür über eine bessere Verbindung zu den tieferen Schichten des Bewusstseins verfügt. Ein Problem könnte hier darin liegen, dass in unseren neuzeitlichen Schulsystemen das rationale, logische und analytische Denken - also "linke" Fähigkeiten - einseitig gefördert werden. Jedenfalls scheint Pestalozzis Prinzip von "Kopf, Hand und Herz" in Vergessenheit geraten zu sein. Auf der andern Seite müssten wir auch überlegen, welche Bedeutung der Tatsache zukommen könnte, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, in der der tagtäglichen Übermittlung bildhafter Information über das Fernsehen ein grosser Stellenwert zukommt.

Anmerkungen

99
Von Ditfurth 1982: 263.