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Menschwerdung

Menschwerdung

1. Menschwerdung
1.1 Der Mensch: Krone der Schöpfung oder Laune des Zufalls?
1.2 Der Mensch als emergentes Phänomen
1.3 Wie unterscheidet sich der Mensch vom Tier
1.4 Entlässt die Natur den Menschen?
1.4.1 Philosophische Anthropologie
1.4.2 Soziobiologie
2. Zur Stammesgeschichte des Menschen
2.1 Zur Entwicklung der Ideen über die Abstammung des Menschen
2.2 Zum Stammbaum des Menschen43
Den Textteil, der mit den in der menschlichen Stammesgeschichte unterschiedenen Arten zu tun hat, habe ich vor bald 10 Jahren geschrieben. Inzwischen sind weitere Knochenfunde gemacht worden und das Bild hat sich wieder verändert, nicht grundsätzlich, aber jedenfalls verfeinert, indem weitere Arten unterschieden werden. Für den neusten Stand der Dinge siehe z.B. Friedemann Schrenk 1997 und Ian Tattersall 1997.
Die Entwicklung der Säugetiere geht in ihren Ursprüngen auf die Ober-Trias vor 220 Mio. Jahren zurück (vgl. Abbildung 14 in "Biologische Evolution"). Zu einem Aufstieg kam es aber erst, als nach dem Massensterben am Ende der Kreide-Zeit die Dinosaurier verschwunden waren. Unter den primitiven Säugern tauchten vor 70 Mio. Jahren die ersten Primaten in Form von Insektivoren auf. Im Paläozän vor 60 Mio. Jahren spalteten sich die Affen von den Halbaffen ab. Danach veränderten sich die letzteren wenig, während die ersteren sich weiter entwickelten und im Laufe des Oligozäns weltweit verbreiteten. Durch geographische Isolation kam es dann zu einer Trennung in zwei Gruppen, in die Altweltaffen und die Neuweltaffen. Aus den ersteren entwickelten sich im Oligozän vor 35 Mio. Jahren die Protohominoiden als Vorläufer der heutigen Menschenaffen und Menschen. 23 bis 12 Mio. Jahre zurück lebten danach in Afrika und später auch in Europa die sog. Dryopithecinen, schon menschenaffenartige Waldbewohner. Zu ihnen gehört der 1927 in Kenya gefundene Proconsul, der nach neueren Forschungen als letzter gemeinsamer Vorfahre der grossen Menschenaffen (Orang-Utan, Gorilla und Schimpanse) und des Menschen gelten darf.44
Siehe Alan Walker und Mark Teaford 1989. Zur Zeit als der Paläontologe des British Museum, A.Tindell Hopwood, den Fund untersuchte, gab es in London ein Variété, in dem ein radfahrender und pfeiferauchender Schimpanse auftrat, der Consul genannt wurde. Dies inspirierte Hopwood zu seiner Namengebung.
Entgegen älteren Vorstellungen, die eine Entwicklung zum Menschen auch in Asien postulierten - es wurde dabei vermutet, bei Ramapithecus, einer etwa 15 Mio. Jahre alten asiatischen Primatenart, habe es sich um die erste Hominidenform oder jedenfalls um einen direkten Vorläufer gehandelt45
So z.B. noch in David Pilbeam 1972: 91 ff.
-, wird heute angenommen, dass nach Proconsul die eigentliche Entwicklung zu den Hominiden nur in Afrika stattfand.
Die Abspaltung der menschlichen Stammeslinie von derjenigen der afrikanischen Menschenaffen wird heute auf einen Zeitpunkt vor 7-10 Mio. Jahren angesetzt (sog. Summoprimaten-Theorie). Dies stellt einen gewissen Kompromiss zwischen bisherigen paläontologischen und neueren molekularbiologischen Ergebnissen (siehe dazu Exkurs 1) dar (vgl. dazu den Stammbaum in Abbildung 3). Die letzteren haben zunächst zu extremen Hypothesen Anlass geben, nämlich zur sog. "late divergence"-Hypothese, wonach die Trennung erst vor 3,5 bis 5,5 Mio. Jahren erfolgt wäre.46
Nach Vincent M. Sarich und J.E. Cronin 1976, zitiert nach Müller 1987: 61.
Einig ist man sich heute darüber, dass die Schimpansen die nächsten Verwandten des Menschen darstellen - ihr Erbgut unterscheidet sich nur zu 1,2% von dem unsrigen -, während die evolutionäre Distanz zu den Gorillas und dann den Orang-Utans schon grösser ist (siehe Abbildung 4).
Exkurs 1: Molekulare Datierung47
Nach Leakey 1981: 48 ff., Manfred Reitz 1986, Schär 1988, Wills 1993: 23-27.
Biochemiker von der University of California in Berkeley (Vincent Sarich, Allan Wilson u.a.) haben eine Methode der molekularen Datierung entwickelt ("molecular clock"). Sie beruht auf folgendem Sachverhalt: Die Informationskodierung im genetischen Apparat besteht bekanntlich in Sequenzen von verschiedenen Nukleinsäuren. Dabei gibt es funktionelle und nicht-funktionelle Kettenbereiche. Durch Genmutationen wird die Kodierung verändert. Sofern diese die nicht-funktionellen Bereiche betreffen, gibt es keine Konsequenzen, d.h. die Veränderungen sind für die Selektion "unsichtbar", da sie die Lebensfähigkeit der fraglichen Zelle oder des ganzen Organismus nicht beeinträchtigen. Solche Mutationen akkumulieren sich also über die Zeit. Durch Vergleich entsprechender Moleküle bei verschiedenen Arten kann eine Aussage über ihren Verwandtschaftsgrad gemacht werden. Wenn eine konstante Mutationsrate pro Zeit angenommen wird, ist ausserdem eine zeitliche Schätzung darüber möglich, wann die zugehörigen evolutiven Entwicklungslinien sich getrennt haben. Statt den Nukleinsäuren können auch in ähnlicher Weise durch Mutationen bedingte Veränderungen in den Aminosäuresequenzen der vom genetischen Apparat synthetisierten Proteine (z.B. diejenigen, die die verschiedenen Blutgruppen prägen) untersucht werden.
Eine noch neuere, ebenfalls in Berkeley ausgearbeitete Methode bezieht sich auf die extrachromosomale Erbsubstanz in den Mitochondrien, den "Kraftwerken der Zellen". Diese Gene zeigen, im Gegensatz zu jenen aus dem Zellkern, einen rein mütterlichen Erbgang. Ausserdem ist ihre Mutationsrate schneller: In 1 Mio. Jahren ändern sich etwa 2-4% der Komponenten. Aus einer Untersuchung von Mutterkuchen von verschiedenen menschlichen Rassen können Typen gebildet werden. Sodann wird mittels Computer ein Stammbaum berechnet.
Allgemein ist zu sagen, dass die Genauigkeit der Datierung mit Hilfe solcher molekularbiologischer Methoden nicht über alle Zweifel erhaben ist. Es besteht nicht ohne weiteres ein Grund für die Annahme, dass die "molekulare Uhr" immer gleich schnell läuft.
Abbildung 3: Der Stammbaum der Primaten der alten Welt mit zeitlich nach gemittelten molekularbiologischen und paläontologischen Ergebnissen eingeordneten Verzweigungspunkten (aus de Waal 1991: 177)
Abbildung 3: Der Stammbaum der Primaten der alten Welt mit zeitlich nach gemittelten molekularbiologischen und paläontologischen Ergebnissen eingeordneten Verzweigungspunkten (aus de Waal 1991: 177)
Abbildung 4: Der genetische Abstand zwischen Mensch und Menschenaffen und innerhalb der Menschenaffen (aus Reichholf 1990: 53)
Abbildung 4: Der genetische Abstand zwischen Mensch und Menschenaffen und innerhalb der Menschenaffen (aus Reichholf 1990: 53)
Eine Fossillücke für den Zeitraum vor 4 bis 8 Mio. Jahren erschwert die Interpretation. Ab einem Zeitpunkt, der etwa 4 Mio. Jahre zurück liegt, ist aber für Afrika eine neue Form dokumentiert, die Australopithecinen, die als die ersten Vertreter einer eigenständigen menschlichen Stammeslinie betrachtet werden. Die älteste heute bekannte Art ist Australopithecus afarensis mit Funden aus Äthiopien, die 3 bis knapp 4 Mio. Jahre alt sind. Eine gewisse Berühmtheit hat das 1974 gefundene, fast vollständige Skelett einer etwa 19-jährigen Frau erlangt, das "Lucy" getauft wurde.48
Siehe Donald C. Johanson und Maitland A. Edey 1981. Die Namengebung erklärt sich daraus, dass zur Zeit der Expedition, die zu diesem Fund führte, gerade der Beatles-Song "Lucy in the Sky with Diamonds" aktuell war (Johanson und Edey 1981: 18).
Die Australopithecinen lebten in Ost- und Südafrika bis vor etwas mehr als 1 Mio. Jahren, wobei einige Formen als ausgestorbene Seitenlinien gelten (siehe dazu Abbildung 5).
Abbildung 5: Mögliche Entwicklung der Hominiden zum Homo sapiens: "Keine gerade Linie, sondern mehrere 'Anläufe', breites Auffächern, Sich-Entfalten und Verschwinden kennzeichnen den Weg, dem der Mensch in seinem Werdegang folgte" (aus Reichholf 1990: 30). Es ist zu beachten, dass es verschiedene, auch sich ständig wandelnde Interpretationen dieses Werdeganges gibt.
Abbildung 5: Mögliche Entwicklung der Hominiden zum Homo sapiens: "Keine gerade Linie, sondern mehrere 'Anläufe', breites Auffächern, Sich-Entfalten und Verschwinden kennzeichnen den Weg, dem der Mensch in seinem Werdegang folgte" (aus Reichholf 1990: 30). Es ist zu beachten, dass es verschiedene, auch sich ständig wandelnde Interpretationen dieses Werdeganges gibt.
Die Entwicklung findet ihre Fortsetzung in Homo habilis, eine Form die durch Fossilien wiederum aus Ostafrika mit einem Alter von 1,5 bis 2,2 Mio. Jahren vertreten ist. Mit dem Gattungsnamen "Homo" ist angedeutet, dass die Funde nun als eindeutig menschlich und als Vertreter der direkten Entwicklung zum heutigen Menschen betrachtet werden. Interessant ist das örtliche und zeitliche Zusammentreffen mit späten Australopithecinen. Es wird vermutet, dass es sich dabei weniger um eine Konkurrenz als vielmehr um eine Koexistenz auf der Grundlage unterschiedlicher Nahrungsspezialisierung handelte. Nach Homo habilis trat bis vor etwa 300 000 Jahren die Art Homo erectus auf, die durch Funde aus Afrika, Europa und Asien belegt ist, was darauf hindeutet, dass sie vorher (ab einer Zeit vor etwa 1 Mio. Jahren) von Afrika aus in Gebiete der benachbarten Kontinente expandierte, in denen vorher keine Hominiden vorkamen. Ein Vertreter von Homo erectus ist der bekannte Java-Mensch, der vom holländischen Anthropologen Eugène Dubois (1858-1940) 1891 gefunden und mit "Pithecanthropus" (Affenmensch) bezeichnet wurde. Dubois war damals nach Südostasien gegangen, um nach dem Bindeglied ("missing link") zwischen asiatischen Affen und Menschen zu suchen, das vom deutschen Zoologen Ernst Haeckel (1834-1919), der damals an eine Hominisation in Asien glaubte, vorausgesagt worden war.49
Vgl. Leakey 1981: 112 ff. Zufolge Eugen Drewermann 1990 (auf dem Buchumschlag) soll Konrad Lorenz einmal gesagt haben: "Das missing link zwischen Affe und Mensch sind wir selber."
Nach der Zeit vor 300 000 Jahren taucht dann schliesslich Homo sapiens auf, zunächst als Vorform (Subspezies) Homo sapiens praesapiens. Die ältesten Funde, die bekannten Frauenschädel von Steinheim und Swanscombe, stammen aus der Mindel-Riss-Zwischeneinszeit und sind über 250 000 Jahre alt. Es muss angenommen werden, dass diese Population nicht als direkte Nachfahrin der vorher im gleichen Gebiet lebenden Homo erectus-Bevölkerung gelten kann, sondern auf einen neuen Einwanderungsschub aus Asien und Afrika zurückgeht. Danach dürfte es aber eine geradlinige Entwicklung zum Homo sapiens praeneanderthalensis (Frühneandertaler, älteste Funde aus der Riss-Würm-Zwischeneiszeit, ca. 150 000 Jahre alt) und danach zum Homo sapiens neanderthalensis (klassischer Neandertaler, der während der letzten Eiszeit (Würm) seit vor etwa 80 000 bis vor 35 000 Jahren lebte) gegeben haben.
Um die Frage, wie danach die Ablösung der Neandertaler durch den rezenten Menschen, Homo sapiens sapiens, vor sich ging, gab es in der Vergangenheit eine Kontroverse, bei der der oben genannte Streit um die Frage einer darwinistischen (verzweigten) oder einer orthogenetischen (parallelen) Entwicklung zum Menschen sich wieder bemerkbar machte (vgl. 2.1).50
Siehe dazu Bowler 1986: 198 ff.
Dabei gab es aber gewissermassen umgekehrte Vorzeichen: Die erstere Interpretation erlaubte es, die früher als "kulturlose Rohlinge" betrachteten Neandertaler als Seitenzweig der Entwicklung zu betrachten, der dann durch den neu eingewanderten rezenten Menschen ausgerottet wurde. Die letztere dagegen musste umgekehrt die Neandertalstufe als eine direkte Entwicklung zum Menschen annehmen. Heute neigt man einem Kompromiss zu: Es ist zu vermuten, dass Homo sapiens sapiens tatsächlich vor 40 - 50 000 Jahren neu in Europa einwanderte (siehe aber 2.3) und dass dieser Vorgang zum Untergang der Neandertaler führte, aber weniger durch direkte Konkurrenz und kriegerische Auseinandersetzung, sondern durch Vermischung.
2.3 Zur Herkunft des Homo sapiens
3. Der Prozess der Menschwerdung
3.1 Aufrechter Gang und Leben in der Savanne
3.2 Der Mensch als "sekundärer Nesthocker"
3.3 Vom Werkzeuggebrauch zur Werkzeugherstellung
4. Das menschliche Gehirn
4.1 Das Dreifachhirn
4.2 Die hemisphärische Spezialisierung
4.3 Bedeutung der menschlichen Gehirnorganisation
4.4 Hypothesen zur Gehirnentwicklung
5. Die menschliche Sprache
5.1 Organische Voraussetzungen
5.2 Die Form der menschlichen Sprache
5.3 Basiert die Sprache auf genetischen oder sozialen Strukturen?
5.4 Wie ist die Sprache entstanden?
Zitierte Literatur