Druckversion  ·  Kontakt

Menschwerdung

Menschwerdung

1. Menschwerdung
1.1 Der Mensch: Krone der Schöpfung oder Laune des Zufalls?
1.2 Der Mensch als emergentes Phänomen
Was sicher scheint: Wir können den Menschen als eine emergente Erscheinung im evolutionären Prozess sehen. Wir knüpfen damit am letzten Abschnitt des Kapitels zur Biologischen Evolution (4.4) an. Es gehört zu ihren Grundprinzipien, dass die Entwicklung kumulativ verläuft; es entstehen immer wieder neue Ebenen von Realität, die die schon bestehenden Ebenen nicht zum Verschwinden bringen, sondern mit ihnen in eine Wechselbeziehung eintreten. Eine jeweils neue Realität ist durch ein emergentes Phänomen mit eigenem Kausalvermögen gegeben. Sie entsteht aus einem evolutionären Sprung, einer "Revolution", oder einer "Fulguration", wie der Verhaltensforscher Konrad Lorenz dies nannte.4
Konrad Lorenz 1973: 48 ff. Lat. fulguratio = Blitzstrahl.
Dieser Makroevolution, die aus irreversiblen Vorgängen besteht, steht eine Mikroevolution von kleinen Schritten gegenüber, die reversibel sind oder im Sande verlaufen können. Die Irreversibilität der neuen Phänomene besteht darin, dass sie sich in Systemen äussern, deren Strukturen ein Selbstreproduktions- und Beharrungsvermögen haben und somit die individuellen Systemelemente überdauern können. Eine Voraussetzung dafür, dass in einem nächsten Schritt wiederum etwas Neues entstehen kann, ist allerdings, dass ein solches Beharrungsvermögen nicht zu starr wird, damit immer wieder eine Öffnung des fraglichen Systems möglich ist. Eine solche kann durch Kreativität von innen oder durch Anstösse von aussen oder durch beides zustande kommen.
Die biologische Evolution beginnt mit der Entstehung des Lebens, einem Phänomen, das im übergeordneten Sinne eine emergente Realität im gerade genannten Sinne darstellt (vgl. "Biologische Evolution", 3). Innerhalb des dadurch gesetzten Rahmens entstehen dann neue emergente Stufen; es entwickelt sich eine "evolutionäre Hierarchie", wie ich das in "Biologische Evolution", Abschnitt 4.4, genannt habe. Als paradigmatisches Beispiel haben wir dort die Nahrungskette betrachtet, die den Bereich der Reproduktion betrifft. Natürlich lassen sich solche Hierarchien aber auch in anderen Bereichen feststellen. Erhard Oeser z.B. hat übergreifend über die biologische und die kulturelle Evolution vier emergente Ebenen der Informationsverarbeitung unterschieden (vgl. Abbildung 1).5
Erhard Oeser 1985, zitiert nach Horst M. Müller 1987: 98 ff.
Er beschreibt sie als Stufen mit qualitativ unterschiedlicher Informationsspeicherung von Umwelteigenschaften6
Mit dieser Charakterisierung wird aber auch deutlich, dass Oeser hiermit eine relativ konservative Vorstellung der Anpassungsnotwendigkeit der Organismen an die Umwelt vertritt. Die Möglichkeit der Eigenkreativität der Lebewesen findet keine Beachtung.
in der Phylogenese, und zwar wie folgt:
1.
Genetisches System: Das in Biomolekülen im Laufe von phylogenetischen Anpassungsprozessen akkumulierte und kodierte "Wissen" wird als Erbinformation weitergegeben. Damit ein solcher Prozess erfolgreich sein kann, braucht es aber eine grosse Zahl von Generationen, die unter relativ identischen Bedingungen leben. Es ist also ein sehr träges Lernsystem.
2.
Neurales System: Es bilden sich Nervenzellen aus, die ein Reflex- und Instinktverhalten steuern können. Somit kann nun nicht nur genetisch fixierte Information über vorteilhafte somatische Errungenschaften weitergegeben werden, sondern auch über erfolgreiche Verhaltensweisen. Damit werden Individuen in die Lage versetzt, auch ohne eigene Erfahrung mit angeborenem Instinktverhalten adäquat auf die Umwelt reagieren zu können.
3.
^Mentales System: In höher entwickelten Gehirnen wird eine Speicherung von ontogenetischer Individualerfahrung möglich. Damit können sich individuelles Lernvermögen, Gedächtnis und Verhalten herausbilden. Das letztere kann aber auch von anderen Individuen kopiert und damit über Generationen weitergegeben werden. Es kommt zur "tradigenetischen" Informationsübertragung7
Vgl. Christian Vogel 1986: 51.
, gewissermassen zur lamarckistischen "Vererbung" erworbener Eigenschaften.
4.
Soziales System: Bei in sozialem Verband lebenden Individuen, die über mentale Systeme der Stufe 3 verfügen, kommt es zur Entstehung von Bewusstsein, willentlicher Entscheidungs- und sprachlicher Kommunikationsfähigkeit. Sie können damit vom unmittelbar Gegenwärtigen abstrahieren und auch über Vergangenheit und Zukunft nachdenken und reden. Die Erfindung der Schrift schliesslich ermöglicht eine extrasomatische Akkumulation von Information.
Abbildung 1: Vier emergente Stufen der biologischen und der anschliessenden kulturellen Evolution, jede mit ihrer eigenen Art der Informationsverarbeitung. So gesehen stellt sich diese Entwicklung als ein Prozess der Informationsverdichtung dar (nach Oeser 1985, aus Horst M. Müller 1987: 100)
Abbildung 1: Vier emergente Stufen der biologischen und der anschliessenden kulturellen Evolution, jede mit ihrer eigenen Art der Informationsverarbeitung. So gesehen stellt sich diese Entwicklung als ein Prozess der Informationsverdichtung dar (nach Oeser 1985, aus Horst M. Müller 1987: 100)
Einerseits sind also im Laufe der Evolution neue Phänomene entstanden, andererseits haben sich alle, auch die jeweils schon bestehenden, immer weiterentwickelt. Von Carl Sagan stammt eine Darstellung, die den evolutionären Trend in der Entwicklung des Informationsgehaltes in Genomen (also der obigen Stufe 1 entsprechend) und in neuralen Systemen (der obigen Stufe 2 entsprechend) zeigt (vgl. Abbildung 2). Sie zeigt, dass sich die Kurve für die letzteren bis zum Menschen abflacht, während diejenige für die genetische Information immer noch im Steigen begriffen ist, wenn sie zum Stadium des Menschen kommt. Können wir das so interpretieren, dass die Möglichkeiten des Genoms als Informationssystem ausgeschöpft sind und andererseits in Zukunft noch grössere neurale Systeme vorkommen werden? Was könnte dies, wenn es so weit kommt, bewusstseinsmässig für die Wesen bedeuten, die dann über diese Systeme verfügen?
Abbildung 2: Entwicklung des Informationsgehaltes in genetischen und in neuralen Systemen. Erläuterungen und Bemerkungen: 1. Bei den bei der genetischen Kurve eingezeichneten Viren wäre zu beachten, dass wir nicht wissen, ob es sich bei ihnen um eine Vorform oder aber um eine spätere Degenerationsform des Lebens handelt; 2. Da der Umfang an DNS pro Zelle innerhalb der gezeigten Taxen variiert, sind nur minimale Informationsgehalte angegeben; 3. Der Pfeil am unteren Ende der neuralen Kurve bedeutet, dass die tatsächlichen Informationsmengen für die Amphibien und andere niedrigere Tierklassen in Wirklichkeit unterhalb des Diagrammrandes liegen (aus Steiner 1986: 16, nach Sagan 1977: 26)
Abbildung 2: Entwicklung des Informationsgehaltes in genetischen und in neuralen Systemen. Erläuterungen und Bemerkungen: 1. Bei den bei der genetischen Kurve eingezeichneten Viren wäre zu beachten, dass wir nicht wissen, ob es sich bei ihnen um eine Vorform oder aber um eine spätere Degenerationsform des Lebens handelt; 2. Da der Umfang an DNS pro Zelle innerhalb der gezeigten Taxen variiert, sind nur minimale Informationsgehalte angegeben; 3. Der Pfeil am unteren Ende der neuralen Kurve bedeutet, dass die tatsächlichen Informationsmengen für die Amphibien und andere niedrigere Tierklassen in Wirklichkeit unterhalb des Diagrammrandes liegen (aus Steiner 1986: 16, nach Sagan 1977: 26)
Stufe 3 mit der neuen Möglichkeit der Tradierung von Information stellt eine grundlegende Voraussetzung für die Entstehung von Kultur dar. Ansätze dazu sind zweifellos schon im Tierreich vorhanden, und so spricht denn auch John Tyler Bonner von einer "Kultur-Evolution bei Tieren".8
Siehe John Tyler Bonner 1983.
Die Menschwerdung kommt aber erst durch die Entwicklung von Stufe 4 und ihr Wechselspiel mit der evolutionär älteren Stufe 3 zustande. Dieser Vorgang kann als "Revolution" im oben genannten Sinne verstanden werden, der die kulturelle Evolution einleitet. Entsprechend reden denn auch Charles F. Hockett und Robert Ascher wie auch Ashley Montagu von einer "human revolution".9
Siehe Charles F. Hockett und Robert Ascher 1964 und Ashley Montagu 1965.
Der letztere sagt: "By 'The Human Revolution' I mean the combination of innovations which brought about the changes which transformed an ape into a man."10
Ashley Montagu 1965, im Vorwort.
Diese Humanrevolution ist wiederum eine Voraussetzung für nachfolgende Emergenzen, d.h. neue Gesellschafts- und Kulturformen innerhalb der kulturellen Evolution, die wir in späteren Texten genauer betrachten werden. Dabei ist immer daran zu denken, dass der Mensch sich damit nicht gänzlich von den Einschränkungen der biologischen Evolution befreit hat: Die neuere kulturelle Realität als Ganzes steht immer auch im Wechselspiel mit der älteren biologischen Realität. Dies kann wichtig sein, weil anzunehmen ist, dass das im wesentlichen heute noch vorhandene genetische Erbgut des Menschen eine Anpassung an Hundertausende von Jahren von einem Leben als Jäger und Sammlerinnen in einer Savannenumwelt ist (s.u.). Andererseits darf die Existenz eines solchen Erbes nicht dazu verleiten, alles, was uns unzivilisiert erscheint, wie z.B. Aggressivität, einfach der biologischen Natur des Menschen anzulasten (vgl. dazu 1.3.2). Es kann sich auch um eine kulturelle "Erfindung" handeln.
1.3 Wie unterscheidet sich der Mensch vom Tier
1.4 Entlässt die Natur den Menschen?
1.4.1 Philosophische Anthropologie
1.4.2 Soziobiologie
2. Zur Stammesgeschichte des Menschen
2.1 Zur Entwicklung der Ideen über die Abstammung des Menschen
2.2 Zum Stammbaum des Menschen43
Den Textteil, der mit den in der menschlichen Stammesgeschichte unterschiedenen Arten zu tun hat, habe ich vor bald 10 Jahren geschrieben. Inzwischen sind weitere Knochenfunde gemacht worden und das Bild hat sich wieder verändert, nicht grundsätzlich, aber jedenfalls verfeinert, indem weitere Arten unterschieden werden. Für den neusten Stand der Dinge siehe z.B. Friedemann Schrenk 1997 und Ian Tattersall 1997.
2.3 Zur Herkunft des Homo sapiens
3. Der Prozess der Menschwerdung
3.1 Aufrechter Gang und Leben in der Savanne
3.2 Der Mensch als "sekundärer Nesthocker"
3.3 Vom Werkzeuggebrauch zur Werkzeugherstellung
4. Das menschliche Gehirn
4.1 Das Dreifachhirn
4.2 Die hemisphärische Spezialisierung
4.3 Bedeutung der menschlichen Gehirnorganisation
4.4 Hypothesen zur Gehirnentwicklung
5. Die menschliche Sprache
5.1 Organische Voraussetzungen
5.2 Die Form der menschlichen Sprache
5.3 Basiert die Sprache auf genetischen oder sozialen Strukturen?
5.4 Wie ist die Sprache entstanden?
Zitierte Literatur