www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

4.2 Die hemisphärische Spezialisierung

Die höchste Form des Wissens, das Wissen über uns selbst, hat nach John C. Eccles seinen Sitz nur in der linken Grosshirnhälfte.93 Mit der rechten, so meint er, können wir nur "wie ein höchst intelligenter Primat" denken. Er nimmt dabei Bezug auf die Tatsache, dass das Grosshirn in zwei Hemisphären geteilt ist, die offensichtlich unterschiedliche Funktionen aufweisen.94 Zwar sind in beiden Hälften auch allgemeine Funktionen lokalisiert: Die rechte Hälfte kontrolliert sensorisch und motorisch die linke Körperseite und umgekehrt. Daneben aber weisen sie ausgesprochene Spezialisierungen auf (vgl. dazu Abbildung 14). In der linken Hälfte ist der Sitz der Denkweisen, die analytisch, differenzierend, logisch, linear, digital und kausal genannt werden können und den sprachlichen aber auch den mathematischen Ausdruck ermöglichen. Die hier ausgeführten Operationen verlaufen sequentiell. Demgegenüber verfügt die rechte Hälfte über Denkformen, die synthetischen, integrativen, relationalen, analogen und akausalen Charakter haben; sie kommen etwa bei der räumlichen Orientierung, der künstlerisch-kreativen Betätigung und der Mustererkennung (z.B. Erkennen von Gesichtern) zum Zuge. Die Informationsverarbeitung geschieht hier irgendwie parallel oder simultan. Gewisse hemisphärische Spezialisierungen treten auch bei Tieren (Menschenaffen, Ratten, Singvögel) auf.95 Die Art, wie wir sie eben beschrieben haben, scheint aber beim Menschen einzigartig zu sein.
Abbildung 14: Die beiden Grosshirn-Hemisphären mit ihrer motorisch-sensorischen Beziehung zu den Körperhälften und ihrer Spezialisierung bezüglich der Art der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung (aus Teegen 1985: 138)
Abbildung 14: Die beiden Grosshirn-Hemisphären mit ihrer motorisch-sensorischen Beziehung zu den Körperhälften und ihrer Spezialisierung bezüglich der Art der Wahrnehmung und der Informationsverarbeitung (aus Teegen 1985: 138)
Es entspricht einer häufig geäusserten Vorstellung, dass die Leistungen der linken Hirnhälfte einem eher männlichen, die der rechten einem eher weiblichen Denkstil entsprechen. Die Ergebnisse, die aus Untersuchungen über Geschlechtsunterschiede gewonnen wurden, sind in dieser Hinsicht aber gerade kontraintuitiv:96 Frauen sind im allgemeinen geschickter bei Aufgaben, die sprachliche Fähigkeiten erfordern, während Männer umgekehrt bei Problemen, die Anforderungen an das räumliche Vorstellungsvermögen stellen, besser abschneiden. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies mit der Art und Weise zusammenhängt, wie die Lokalisierung der fraglichen Funktionen bei Frauen und bei Männern auf die beiden Hemisphären aufgeteilt ist. Es scheint, dass die verbalen und die räumlichen Fähigkeiten bei Männern stärker lateralisiert, d.h. auf die beiden Hemisphären aufgeteilt sind als bei Frauen. Es würde dann bedeuten, dass eine Verbalisierung von Informationen von einer stärkeren Integration zwischen den beiden Hirnhälften (wie sie für Frauen typisch wäre) profitiert, während das räumliche Vorstellungsvermögen umgekehrt bei einer stärkeren Spezialisierung der beiden Hälften besser entwickelt ist. Es ist also möglich, dass ein stärkeres Zusammenwirken von beiden Hemisphären einem "weiblichen Stil" entspricht. Dazu kommt, dass die rechte Hirnhälfte eine besondere Rolle bei der Verarbeitung von emotionalen Informationen zu spielen scheint.97 Die Ergebnisse einer Untersuchung von Hans Kastenholz über die Leistungen der beiden Hemisphären bezüglich der Perzeption von Wörtern mit und ohne emotionalen Gehalt können so interpretiert werden, dass Gefühle weckende Wahrnehmungen zu einem stärkeren Zusammenwirken oder mindestens zu einer stärkeren beidseitigen Sensitivierung der beiden Hemisphären führen.98

Anmerkungen

93
John C. Eccles 1973.
94
Vgl. dazu Robert E. Ornstein 1981 und Sally P. Springer und Georg Deutsch 1985.
95
Siehe Springer und Deutsch 1985: 205 ff.
96
Vgl. Springer und Deutsch 1985: 176 ff.
97
Siehe Springer und Deutsch 1985: 174.
98
Vgl. Hans Kastenholz 1987.