www.humanecology.ch · Skripten 1998/99 · Menschwerdung

2.1 Zur Entwicklung der Ideen über die Abstammung des Menschen

Ein Versuch, die Abstammung des Menschen zu rekonstruieren, wird immer mit recht spekulativen Vermutungen verbunden sein. Die Informationen, die zur Verfügung stehen, sind einerseits nur lückenhaft vorhandene Fossilien aus der Vergangenheit, andererseits vergleichende Beobachtungen an heute lebenden Arten. Die Interpretation dieser Befunde kann sich weniger auf das in den Naturwissenschafen beliebte kausalanalytische Verfahren des Erklärens stützen, sondern erfordert eher eine Methode hermeneutischer Art.38 Die Hermeneutik gilt als Methode des Verstehens und ist im Zusammenhang mit dem Versuch der Auslegung von religiösen, philosophischen und dichterischen Schriften entstanden. Dabei gilt etwas als verstanden, wenn seine Interpretation Sinn macht. Das Vorgehen hat einen zirkulären Charakter, indem es sich zwischen einem Ganzen und seinen Teilen hin und her bewegt. Ein sprachliches Beispiel: Ein Satz erhält seine Bedeutung aus der Bedeutung der ihn konstituierenden Wörter, aber diese hängt umgekehrt vom Kontext des Satzes ab, in dem die Wörter auftreten.39 Es gilt also, die in Knochenfunden und anderen Indizien wiedergebene "Sprache" der Vergangenheit zu entziffern, und dies ist immer mit Unsicherheiten verbunden, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass die Interpretationen in ständiger Wandlung begriffen sind. Dieser Situation kann man aber auch etwas Schönes abgewinnen: Der Paläoanthropologe Peter Schmid von der Universität Zürich soll einmal gesagt haben: "Was wir betreiben, ist eigentlich Paläopoesie nach möglichst logischen Prinzipien."40 Allerdings muss auch gesagt werden, dass es immer wieder neue naturwissenschaftliche Methoden gibt, die zusätzliche Informationen liefern wie z.B. das Verfahren der molekularbiologischen Datierung (siehe 2.2). Es ist auch absolut erstaunlich, was sich heute mittels minutiöser Analysen alles aus Knochenfunden herauslesen lässt.41 Umgekehrt bedeutet aber diese Entwicklung auch nicht, dass wir bald einmal in die Lage kommen können, eine lückenlose Beschreibung dessen abzugeben, was sich tatsächlich ereignet hat. Mit mehr Datenmaterial können wir immer auch mehr Fragen stellen; mehr Wissen bedeutet immer auch mehr Nichtwissen.
Die Erkenntnis, dass die Spezies Homo sich aus tierischen Vorfahren entwickelt hat, ist noch relativ neu. Wie schon in "Biologische Evolution" 1.2 erwähnt, wurde bis mindestens ins 18.Jahrhundert die Existenz der Lebewesen - und die des Menschen dann besonders - mit dem in der Bibel geschilderten Schöpfungsvorgang erklärt. Zwar hatte schon Aristoteles in seiner "Tierkunde" auf Ähnlichkeiten des Menschen mit den Affen hingewiesen, und Carl von Linné (1701-1778) den Menschen als Homo sapiens zusammen mit dem Schimpansen und dem Gorilla in die gleiche Gattung und mit den übrigen Affen in die Ordnung der Herrentiere (Primaten) gestellt. Erst mit der Evolutionstheorie von Charles Darwins (1809-82) wurde aber diese Formenverwandtschaft auch als Abstammungsverhältnis interpretiert: Menschen und Menschenaffen haben einen gemeinsamen Ursprung. In "Biologische Evolution" 1.4 haben wir darauf hingewiesen, dass der darwinschen Vorstellung der Evolution ein orthogenetisches Konzept entgegengestellt wurde. Die erstere beschrieb die Evolution figürlich gesehen als einen Busch von divergenten Entwicklungslinien, von denen infolge des Selektionsgeschehens die einen wieder abstarben, während andere weiter wuchsen. Das letztere dagegen schrieb der Evolution den Charakter einer linearen Progression zu. Diese konnte auch auf mehreren zueinander parallelen Linien vor sich gehen (sog. Parallelismus), was den Vorteil hatte, dass eine nahe Verwandtschaft von Mensch und Menschenaffen geleugnet werden konnte, indem deren gemeinsamer Ursprung beliebig weit in die Vergangenheit zu nicht-äffischen Vorfahren zurückverlegt werden konnte. Z.B. versuchte der englische Biologe Frederic Wood Jones 1919 mit seiner sog. Tarsius-Theorie die menschliche Entwicklungslinie auf vor 60 Mio. Jahren lebende Vorfahren der heutigen Koboldmakis (Tarsiidae) zurückzuführen. Nach 1900 begann dann die neue Wissenschaft der Genetik die Grundlagen der orthogenetischen Auffassungen zu untergraben und die Waagschale auf die Seite des Darwinismus zu neigen.42

Anmerkungen

38
Vgl. Hockett und Ascher 1964: 70-71.
39
Zur Hermeneutik siehe z.B. Herbert Tschamler 1983: 33 ff.
40
Zitiert nach Markus Schär 1988.
41
Siehe dazu z.B. Alan Walker und Pat Shipman 1996.
42
Vgl. Peter Bowler 1986: 119 ff.