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3.3 Das Gehirn als operational geschlossenes System?

Auch in dieser Situation ist aber die Debatte nicht abgeschlossen. Auch wenn Neuronen und dann ganze Regionen mit funktionellen Eigenheiten eindeutig lokalisierbar sind, ist über die Art des Zusammenwirkens der Nervenzellen bzw. der Hirnfelder noch nichts gesagt. Schon Brodmann selbst hatte erkannt, dass seine primären Rindenfelder untereinander durch sog. Assoziationsfelder verbunden sind, die für höher integrierte Funktionen zuständig zu sein scheinen. In neuerer Zeit tauchen wieder stärker holistisch orientierte Ideen auf, allerdings meist nicht per se, sondern als Komponenten in Auffassungen, die man mit der Entstehung eines evolutionären Weltbildes (s. "Wandel des Weltbildes") in Verbindung bringen kann. Hier kann man etwa die Vorstellungen des chilenischen, heute in Paris lebenden Neurobiologen Francisco Varela ansiedeln. Er betrachtet das Hirn als ein selbstorganisierendes, operational geschlossenes System, das sich seine eigene Welt schafft. Dies ist so zu verstehen, dass ein sensorischer Input für das Gehirn nicht im strengen Sinne Information über die Aussenwelt darstellt, sondern eher eine Verstörung (Perturbation) in der Art, dass die Struktur des jeweiligen Nervensystems entscheidet, wie darauf reagiert werden soll.
In Fig.10 ist dieses Prinzip anhand des Sehvorgangs erläutert. Von der Retina des Auges aufgefangene Reize werden auf ein Zentrum im Mittelhirn (LGN) projiziert. Dieses spielt die Rolle einer Relaisstation, die die Impulse an die Sehrinde (VC) weiterleitet. Dieser linear-sequentielle Übertragunsmechanismus (auf den sich die Beschreibung in den meisten Neurologie-Lehrbüchern üblicherweise beschränkt) stellt aber nur den kleineren Teil dessen vor, was passiert. Wenn man nämlich die Zahl neuraler Verbindungen betrachtet, sieht man, dass nur rund 20% der Eingänge zum LGN vom Auge stammen. Die restlichen 80% haben ihren Ursprung im Hirn selbst, so dass der ganze Vorgang eher einen zirkulären Charakter annimmt. Varela (1987) beschreibt dies so: "Stellen Sie sich vor, ein Neuron im Corpus genicualtum (LGN) zu sein. Wenn die gesamte Information, die Sie erhalten, von der Retina stammen würde, wären Sie wie ein Soldat in einer Kommandokette, der keine andere Rolle hat, als das weiterzugeben, was er kriegt. Wenn Sie jedoch gleichzeitig verschiedene Stimmen wahrnehmen, dann gleicht die Situation eher einer Cocktailparty als einer Kommandokette."
Die Reaktion auf eine Perturbation wird so ausfallen, dass die geschlossene Organisation aufrecht erhalten bleibt, allerdings auch so, dass (normalerweise) ein Überleben des fraglichen Organismus möglich ist, was wiederum heisst, dass die intern konstruierte "Wirklichkeit" doch in einer gewissen Übereinstimmung mit der Aussenwelt stehen muss. Varela stellt sich aber mit diesen Auffassungen in Gegensatz zur sog. []i]evolutionären Erkenntnistheorie, die vom in diesem Jahr verstorbenen Verhaltensforscher Konrad Lorenz ("Die Rückseite des Spiegels", 1973) begründet wurde und danach eine Weiterentwicklung durch den Biologen Rupert Riedl (1981) und den Philosophen Gerhard Vollmer (1983) erfahren hat. Danach ist die gesamte Evolution als ein erkenntnisgewinnender Prozess zu verstehen, bei dem in wachsendem Mass Information über die Umwelt in den Organismen repräsentiert und abgespeichert wird. Zweifellos ist die Frage, wie weit das menschliche Gehirn in der Lage ist, sich ein adäquates Bild seiner Umwelt zu machen, oder wie weit es sich eine eigene Realität schafft, von grösster Bedeutung für unser heutiges Umweltproblem.